Wie offen darf es sein?

Normalerweise erwähne ich mein Privatleben in der Öffentlichkeit – also auch auf Twitter – kaum. Man könnte fast vermuten, daß ich kein Privatleben habe. Das ist natürlich nicht so. Aber meist finde ich es hilfreich, wenn nicht jeder „alles“ über mich und mein Leben weiß. Diesen Grundsatz habe ich in den letzten 7 Monaten dreimal gebrochen und das sehr bewußt. Heute Morgen habe ich darüber nachgedacht und diese Gedanken möchte ich hier jetzt zusammenfassen. Aber erst einmal die drei „Verstöße“ gegen meinen Grundsatz der Privatheit …..

Der schwerste Tag des Jahres 2017 – der 1. Dezember 2017
Ende November 2017 ging es meiner Mutter aufgrund ihrer Krebserkrankung schon sehr schlecht. Wir hatten irgendwann den SAPV hinzugezogen, aber es wurde täglich schwieriger. Am 30.11. erfuhren wir am Nachmittag, daß sie am Nachmittag des 01.12.2017 ins Hospiz gehen konnte. Das war ihr Wunsch und insofern eine gute Nachricht. Terminlich war das für mich allerdings schwierig. Ich sollte am 01.12.2017 in der LVQ unterrichten – zweiter Tag im Social-Media-Manager-Kurs. Telefonisch habe ich mich mit der LVQ darauf geeinigt, daß ich bis zum Mittag unterrichte, für den Rest des Tages Aufgaben vorbereite und dann gehe, um meine Mutter ins Hospiz zu begleiten. So stand ich am Morgen des 01.12.2017 vor einem Raum fröhlicher und erwartungsvoller angehender Social-Media-Manager. Es war so schwer. Ich konnte kaum sprechen, mir kamen die Tränen. Und doch mußte ich da irgendwie „durch“. Ich hatte unterwegs schon beschlossen, daß ich berichte, warum es mir nicht gut geht. Also habe ich mit brechender Stimme und unter leichten Tränen erzählt, daß ich an dem Tag nur bis zum Mittag unterrichte, weil ich danach meine Mutter ins Hospiz begleite (und bei der Erinnerung an diesen Moment fließen auch jetzt wieder meine Tränen). Ich habe mich dann einen Moment umgedreht, mich geräupsert und dann konnte ich unterrichten.
Ich glaube, daß es eine gute Entscheidung war, so vorzugehen. Ich würde es jedenfalls wieder so machen.

Der 5. und 6. Dezember 2017
Am 5. Dezember starb meine Mutter am frühen Morgen im Hospiz. Ich war dankbar, daß sie einschlafen konnte und natürlich gleichzeitig traurig. Im Laufe der Jahre hatte ich mit vielen Menschen, mit denen ich auf Twitter vernetzt bin, über die Krankheit meiner Mutter gesprochen. Deshalb kam ich auf die Idee, meine „Gefühlslage“ in dem Moment auch auf Twitter zu veröffentlichen und zwar mit folgenden Worten:

„Nach einer sehr schweren Zeit ist meine Mutter gestern friedlich eingeschlafen. Ich bin traurig, gleichzeitig dankbar, daß sie gehen konnte.“

Es war eine gute Idee. Ich habe sehr viele nette Tweets und Nachrichten erhalten, es war das Gefühl im Moment der Trauer nicht allein zu sein. Ich war und bin sehr dankbar dafür, daß meine Menschen in dem Moment an mich gedacht haben, mir Kraft gewünscht haben und sich bei mir gemeldet haben.

Der schlimmste Tag des Jahres 2018 – der 23. Juni 2018
Durch die intensive Begleitung meiner Mutter bis zum Tod ging es mir schon kurz nach ihrer Beerdigung relativ gut. Ich hatte mich schon in der Zeit von August bis Dezember von ihr verabschiedet – jeden Tag ein kleines bißchen mehr. Januar und Februar waren schon noch schwierig, aber ab März ging es deutlich aufwärts und im April und Mai hatte ich mein „altes fröhliches und gelassenes Ich“ komplett wiedergefunden.

Die Vorgeschichte
In dieser Zeit schrieb jemand, dem ich schon ziemlich lange folge (und er mir auch) in einem Thread etwas zum Thema „Eisessen“. Daraus ergab sich die Idee, sich doch zu treffen, wenn ich mal im Norden bin. Ich war so offen und fröhlich, daß ich (völlig ohne Hintergedanken) meinen Hamburgaufenthalt Ende Mai/Anfang Juni per DM mitgeteilt habe. Daraus ergab sich dann (leider!) ein Treffen in Blankenese am 30. Mai. Es war ein schöner Abend, mit einer seltenen Vertrautheit, die sich für mich nach Freundschaft anfühlte. Mehr war es zu dem Zeitpunkt nicht. Allerdings folgten danach (fast) jeden Abend lange Twittergespräche per DM, die irgendwie im Laufe der Zeit zu einer starken Nähe führten. Irgendwann während dieser Zeit habe ich mich verliebt. Und ich habe das auch frühzeitig in meinen Antworten „durchblicken“ lassen. Gelegentlich kam dann ein „Ohhh“ als Antwort. An vielen Stellen wäre die Möglichkeit gewesen zu sagen „ich möchte nur Freundschaft“, ich hätte dann einmal schwer geschluckt, aber es wäre möglich gewesen. Wir wären uns ja ohnehin nicht persönlich über den Weg gelaufen (ich in Wuppertal, er in Norddeutschland). Aber im Gegenteil. Wir hatten schon ausgemacht, daß ich ihn am ersten Juliwochenende besuche und plötzlich schlug er vor, daß wir uns am 18. Juni in Köln treffen, weil er auf einer Geschäftsreise war und dort ohnehin umsteigen mußte. Wir haben an dem Sonntag und Montag viele Nachrichten ausgetauscht, die ganz klar in Richtung „romantische Natur des Treffens“ liefen und auch das Treffen war eben nicht freundschaftlich. Weiter ging es mit den Privatnachrichten – bis Donnerstagabend. Dann herrschte Stille, was mich aber zunächst nicht verwunderte. Am Samstagabend kam dann die Nachricht per DM, daß er seit einer Woche (!) schon darüber nachdenkt, ob er überhaupt eine Beziehung will und sich jetzt entschieden hat, daß er keine Beziehung will. Ja, da saß ich dann ganz allein vor meinem Rechner. Ich habe natürlich noch nachgefragt, Vorschläge gemacht, aber das „Nein“ blieb felsenfest bestehen.

Warum ich es öffentlich gemacht habe…..
Eine schreckliche Situation. Ich hatte mir als ich nach Hamburg fuhr keine Beziehung gewünscht. Ich hatte mich auf ein nettes Treffen gefreut, mich dann auf den DM-Austausch eingelassen, mein Herz geöffnet und plötzlich saß ich hier mit einem großen Scherbenhaufen. In meiner Not griff ich zu Twitter (da ich ja ohnehin parallel mit ihm noch per DM sprach). Ich schrieb daher folgenden Tweet:

„Wenn etwas, was sich schön und richtig anfühlt, plötzlich abrupt endet, ohne daß man es versteht, dann ist das traurig. #traurigerSamstag“

Vom Hashtag #traurigerSamstag wechselte ich am Sonntag dann auf den Hashtag #traurigerSommer – unter beiden Hashtags kann man nachlesen, was ich am Samstagabend und Sonntag geschrieben habe. Es ging mir richtig schlecht. Ich konnte nicht schlafen, nichts essen, Tränen liefen mir über das Gesicht, ich konnte mich nicht konzentrieren, nichts in Ruhe lesen. Es war fürchterlich. Ja, ich habe das alles auf Twitter öffentlich gemacht. Ich habe einen Moment gezögert, ob das gut ist und dann habe ich gedacht: doch, es kann nicht schlimmer werden. Was mir wichtig war: ich habe an keiner Stelle den Namen genannt, es geht darum, daß ich meinen Schmerz und meine Trauer verarbeite – dafür muß ich natürlich die Geschichte erzählen, ich möchte „ihn“ aber nicht „fertigmachen“, auch wenn ich mit seinem Verhalten nicht glücklich bin. Ich habe aber den Eindruck, daß es ihm am Samstag auch nicht wirklich gut ging und er über den Verlauf und die „Notwendigkeit“ der Entscheidung (aus seiner Sicht) auch nicht glücklich ist. Aber das ist letztlich egal – hier geht es um nicht um ihn, sondern um mich!

Was dann kam ….
Wirklich erstaunt war ich über die Vielzahl der Rückmeldungen. Schon am Abend (noch während das DM-Gespräch lief) erhielt ich aufmunternde Tweets. Nach dem endgültigen „Scheitern“ wurden es noch mehr und in diversen DM mit unterschiedlichen Menschen wurde ich getröstet, abgelenkt („wann ist etwas überhaupt eine Beziehung“, „wann ist es ein Scheitern“), mir wurden Erfahrungen berichtet und ich wurde immer wieder herzlich umarmt. Viele Menschen boten mir auch in DMs Gespräche an. Ich hatte nicht mit dieser Menge an positiven Rückmeldungen gerechnet, das Twittern war erst einmal mein Umgang mit einer für mich fürchterlich schmerzhaften und traurigen Situation, mit der ich nicht gerechnet hatte. Natürlich hätte ich diese Situation gerne vermieden (siehe oben) – aber ich bin so dankbar dafür, daß so viele Menschen meinen Kummer und meinen Schmerz wahrnehmen und nachfühlen konnten und so einfühlsam reagiert haben. Das war das wirklich gute Erlebnis an diesem Wochenende! Danke!!

Zu dem Thema offener Umgang mit Gefühlen möchte ich Euch noch das YouTube-Video von Bettina Stackelberg ans Herz legen. Ich glaube mittlerweile tatsächlich, daß es uns gut tut, wenn wir nicht nur über die positiven Seiten unseres Lebens sprechen. Es ist leicht Erfolg zu kommunizieren und zu teilen, es ist viel schwerer über die Niederlagen, Ängste und Schmerzen zu sprechen. Und doch tut es gut, ich kann das jetzt aus eigener Erfahrung versichern!

Wie offen will ich in Zukunft sein?
Heute morgen schrieb ich in einem Thread, daß ich mein Herz am liebsten für die nächsten 20 Jahre abschotten möchte. Ich stecke in einem gewissen Sinne in einer paradoxen Situation. Eigentlich bin ich von Natur aus offen und neugierig, freue mich Menschen kennenzulernen, springe gerne in Unterhaltungen auf Twitter, folge neuen Menschen, freue mich, wenn sie mir antworten und daraus neue „Bekanntschaften“ oder vielleicht sogar „Freundschaften“ entstehen. Das alles möchte ich nicht missen und doch ist da jetzt dieses Warn- und Stoppschild in meinem Kopf. Wenn es das Treffen in Hamburg nicht gegeben hätte, dann ginge es mir heute richtig gut …… Aber es gab dieses Treffen und den nachfolgenden DM-Austausch….. Leider. Es hätte sonst vielleicht eine wunderbare Freundschaft werden können. Aber zurück zum Thema „Zukunft“.

Bettina Stackelberg hat die zwei grundsätzlichen Möglichkeiten in einem Tweet an mich wunderbar zusammengefaßt: „Und ich hab immer aufs neue die Entscheidung: Herz offen oder Herz geschlossen“. Ja, das ist richtig und doch manchmal schwer umzusetzen.

Heute Morgen fiel mir auf, daß es vor allem im Moment darum geht, wo ich meine „Grenzen“ setze, wann ich „nein“ sage oder bewußt blockiere (das kann ich sehr gut, das habe ich schon lange Jahre erfolgreich gemacht, leider nicht in Hamburg). Und bei dem Nachdenken über Grenzen fiel mir dann auf, daß mein Umgang mit der Situation ganz im Kleinen irgendwie auch für die gesellschaftliche Frage in Deutschland steht – wie geht Deutschland mit seinen Grenzen um. Offenheit macht verletzlich, gleichzeitig ist Offenheit notwendig, damit sich „Beziehungen“ überhaupt ergeben können – persönliche Beziehungen zwischen Menschen (Bekanntschaft, Freundschaft, Liebe), wirtschaftliche Beziehungen, diplomatische Beziehungen.

Ich bin durch dieses Wochenende natürlich wieder meilenweit von meinem offenen und fröhlichen „Ich“ entfernt und der Weg zurück wird lange dauern. Deshalb ist der Hashtag #traurigerSommer sehr treffend und richtig. Das heißt nicht, daß ich jetzt täglich allein im Kämmerlein weine und leide. Aber es ist ein trauriger Grundton da. Sozusagen „Moll“ statt „Dur“. Es ist ein bißchen so, als ob alles mit einem Grauschleier versehen ist. Es wird dauern, bis dieser Grauschleier verschwindet und ich wieder „ich“ bin. Aber ja, ich werde das auch diesmal hinbekommen.