Eine Frage der Perspektive…..

Eigentlich, ja eigentlich sollte ich heute etwas anderes machen. Den Kurs für die Medienfachwirte vorbereiten, Anfragen von Mandanten beantworten…. Aber: irgendwie hat mir das Schicksal – in diesem Fall in Form eines Twittergesprächs – ein Thema vor die Füße geworfen, daß ich nicht liegenlassen möchte. Daher gibt es hier – endlich mal wieder – einen Blogbeitrag.

Heute morgen las ich folgenden Tweettext: „Die Fähigkeit, die Perspektive eines anderen Menschen einnehmen zu können, bedeutet nicht die Negierung der eigenen Perspektive sondern es bedeutet die Fähigkeit, die Perspektive eines anderen Menschen einnehmen zu können, um damit eine größere, eigene Perspektive zu erlangen.“ Ich habe erst einmal in Ruhe über diesen Satz nachgedacht. Dann habe ich genickt und den Satz retweetet. Kurz danach las ich (völlig unabhängig von meinem Retweet) eine Antwort auf diesen Tweet: „Wobei offen bleibt, welche Perspektive eingenommen wird, wenn man meint, die Perspektive eines anderen Menschen einzunehmen. Könnte es nicht auch sein, dass damit wieder nur die eigene Perspektive – nun als Projektion einer vermeintlich anderen Perspektive – eingenommen wird?“ Hmm, ja – schon irgendwie. Aber greift das nicht zu kurz? Führt nicht auch der Versuch, eine andere Perspektive einzunehmen zu Veränderung oder zu mehr Verständnis? Ich antwortete und ein spannendes Twittergespräch entspann sich. Danke an @SKunzke und @DanielHornuff für die Anregung zu diesem Thema und dieses Gespräch (witzigerweise an einem Tag, an dem ich vorher einen Tweet zum Thema „fehlende Twittergespräche“ beantwortet und kurz etwas zum Thema „Mediation“ geschrieben habe – beides hängt interessanterweise eng zusammen).

Die eigene Perspektive
Wir alle haben – ob bewußt oder unbewußt – unsere Sicht auf die Dinge, unseren Standpunkt. Ganz einfach betrachtet: wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich meinen Garten. Auch die Nachbarn rechts und links von mir können meinen Garten sehen, aber ihr Blickwinkel auf meinen Garten ist anders. Einmal, weil sie tatsächlich andere Dinge sehen können (ich kann zum Beispiel die Himbeeren nicht sehen, weil die hinter einem ziemlich großen Strauch stehen, von der Seite kann man die sehen), zum anderen weil sie andere Dinge mögen (andere Pflanzen/Blumen, weniger Unkraut, keine wild wachsende Wiese). Ich mag meinen Garten (auch wenn ich tatsächlich mal etwas Gartenarbeit machen sollte), aber ich vermute – sicher nicht zu Unrecht – daß meine Nachbarn meine Ansicht nicht teilen.

Wo immer wir uns körperlich befinden, nehmen wir unsere Umgebung wahr. Wir sehen, hören oder riechen etwas. Und irgendwie denken wir ziemlich oft, daß andere Menschen in diesem Moment genau dasselbe hören, sehen oder riechen. Das kann so sein, aber Mißverständnisse entstehen oft dann, wenn wir das voraussetzen. Ich weiß noch, daß ich vor einigen Jahren (kurz nach Beginn der Mediationsausbildung) mit meiner Mutter im Siebengebirge wandern war. Wir waren in einem Wald. Meine Mutter schaute sich um und sagte „Schöner Baum.“ Wir waren in einem Wald. Es gab nicht nur einen Baum, sondern zig Bäume. Was tun? Nicken und bestätigen oder nachfragen? Normalerweise hätte ich einfach „ja“ gesagt, denn es gab dort wirklich schöne Bäume. Aber die Mediationsausbildung provozierte mich in diesem Moment zur Nachfrage „Welchen Baum meinst Du?“ Meine Mutter fand die Nachfrage nicht wirklich gut, wir haben das Thema nicht weiter verfolgt, aber diese kleine Szene ist mir doch in Erinnerung geblieben.
Andererseits ist es manchmal schwierig, beim eigenen Standpunkt zu bleiben, wenn andere Menschen einen fragend oder ablehnend anschauen oder sich sogar deutlich dagegen aussprechen. Vor vielen Jahren wanderte ich Ende April mit meiner Mutter in der Nähe von Eisenach. Wir gingen einen Waldweg an einem Flüßchen hinunter und ich nahm die ganze Zeit einen immer stärker werdenden Bärlauchduft wahr. Irgendwann sagte ich „es duftet nach Bärlauch“. Aber da war kein Bärlauch zu sehen und meine Mutter hielt das für eine Verirrung meiner Nase. Trotzdem. Ich bestand darauf. Einige Wegbiegungen später sahen wir auf der anderen Seite des Flüßchens ein richtig großes Bärlauchvorkommen.

Die eigene Perspektive ist aber nicht auf diese unmittelbar körperliche Wahrnehmung begrenzt. Wenn ich etwas lese – einen Tweet zum Beispiel, einen Blogbeitrag, einen Zeitungsartikel oder ein Buch – dann mache ich mir auch darüber Gedanken. Ich stimme zu (wie im Fall des oben geschilderten Retweets) oder ich lehne den Gedanken oder die Wortwahl ab. Manchmal äußere ich mich dann, manchmal (eigentlich meistens) nicht. Aber irgendwie habe ich immer eine Art von „Erklärung“, warum etwas für mich nicht paßt, sich für mich „falsch anhört“. Es ist nicht immer eine logische oder irgendwie begründete „Erklärung“, manchmal ist es einfach das Gefühl „das ist falsch“ oder „das paßt für mich nicht“. Und wenn es falsch ist, dann darf ich das ja auch so sagen/schreiben. Oder etwa nicht?

Was, wenn es anders wäre….?
Das was ich fühle, denke, wahrnehme ist für mich selbst erst einmal richtig. Es ist meine subjektive Wahrheit. Aber: wenn es für mich wahr ist, wie kann es dann für andere Menschen falsch sein? Liegen diese Menschen dann nicht falsch? Und ist es dann nicht hilfreich und wichtig, daß ich Ihnen die Wahrheit mitteile?

Ja, wenn es so einfach wäre….. Denn oft gibt es viele „Wahrheiten“ – also Sichtweisen, die nicht falsch sind, die sogar gleichzeitig richtig und zutreffend sind. Eben eine Frage der Perspektive! Es war der Vorteil der Mediationsausbildung, daß ich mich mit diesem Thema tiefer beschäftigen konnte und durfte.

Kennt Ihr „Vexierbilder“? Also diese Bilder, die gleichzeitig unterschiedliche Bilder enthalten? Ich habe hier einmal ein Beispiel verlinkt – was seht Ihr auf diesem Bild? Oder hier? Es ist gleichzeitig faszinierend und verwirrend, daß wir unterschiedliche Dinge sehen können und doch gleichzeitig mit unserer Wahrnehmung dessen, was wir sehen, recht haben. „Wahrheit“ ist bei diesen Bildern eben nicht auf eine einzige Art der Wahrnehmung beschränkt. Es gibt kein „nur das ist richtig“. Was aber, wenn wir nicht alles „sehen“, was wir sehen könnten?

David Foster Wallace hat in seinem – ursprünglich als Rede verfaßten – Text „This is water“ gute Beispiele gebracht, warum wir durch die Fokussierung auf uns selbst – also auf uns selbst als Mittelpunkt der Welt – sehr viel gar nicht sehen und wahrnehmen können. Wenn ich in einem vollen Supermarkt an der Kasse warte, dann kann ich mich darüber ärgern, daß so viele Menschen auch gerade einkaufen wollen. Oder ich kann darüber nachdenken, ob diese Menschen auch gerade genau dasselbe denken, ob sie vielleicht noch viel weniger als ich zu einem anderen Zeitpunkt einkaufen gehen können. In dem Moment, wo ich den Gedanken zulasse, daß die Welt sich nicht nur um mich dreht (schade eigentlich, oder?), öffnet sich die Möglichkeit andere Perspektiven wahrzunehmen.

Es könnte anders sein!
Menschen haben (fast) immer einen guten Grund, so zu handeln/reagieren, wie sie es tun. Es ist dieser Satz aus der Mediationsausbildung, den ich in sehr guter Erinnerung behalten habe. Unsere Erlebnisse und Erfahrungen prägen uns und beeinflussen, wie wir denken, handeln und reagieren. Eine Situation, die für mich einfach und unproblematisch ist, kann für andere Menschen belastend sein und andersherum. Es ist ein bißchen so wie in der Geschichte Der Tempel der 1000 Spiegel. Wobei das nicht heißen soll, daß alle Probleme sich auflösen, wenn man seiner Umgebung freundlich begegnet. Sondern eher, daß wir durch unsere guten und schlechten Erfahrungen geprägt werden.

Kleines Beispiel: meine ersten Grenzerfahrungen habe ich als Kind bei Reisen in die DDR gemacht. Es war immer eine angespannte Situation, weil meine Mutter 1956 geflohen ist und wir fast immer ziemlich gründlich kontrolliert wurden. Bei „Grenzen“ denke ich dementsprechend immer noch zuerst an genau diese angsteinflößende Atmosphäre, auch wenn ich bei all meinen späteren Reisen in andere Länder nie Probleme hatte. Aber diese erste „Erfahrung“ steckt tief in mir drin.

Andererseits habe ich bisher keinerlei unangenehme Erfahrungen mit Behörden oder mit der Polizei gemacht. Dementsprechend sind dies für mich keine angstbeladenen Situationen. Mit der Frage „was, wenn es anders wäre?“ kann ich mir aber vorstellen, daß Menschen mit anderen Erfahrungen und Erlebnissen jede neue Begegnung mit diesen Stellen als problematisch und schwierig empfinden. Aber wie merke ich, ob es wirklich so ist oder ob ich wiederum nur etwas unterstelle, was für mich passend aussieht? Wenn ich die Ruhe und Muße habe und mich der Mensch/das Thema interessiert, dann versuche ich Fragen zu stellen. Also offene Fragen. Auch das ist eine „Technik“, die ich während der Mediationsausbildung gelernt habe. Nicht immer werden meine Fragen beantwortet, nicht immer kann ich mit den Antworten etwas anfangen. Das ist in Ordnung. Aber in jeder offenen Frage (in der vor allem keine Bewertung enthalten ist) steckt die Chance, die Perspektive eines anderen Menschen zu sehen und (vielleicht) zu verstehen. Twitter hat mir dafür in vielen Gesprächen immer wieder gute Gelegenheiten gegeben – oft auch durch das Mitlesen von Gesprächen und Diskussionen. Nicht immer habe ich mich so verhalten, wie ich gerne wollte. Es gibt Gespräche, die nicht gut verlaufen sind, immer wieder Enttäuschungen und Verärgerungen bei Gesprächsbeteiligten. Und doch ist Twitter ein guter Ort, um immer wieder darüber nachzudenken, warum ein Mensch etwas so schreibt/macht/denkt, wie es in einem Tweet steht und die Chance darüber nachzudenken, was das mit mir macht und vor allem – wenn es mich „stört“ – warum das so ist. Denn es könnte ja einfach sein, daß ich nur meine Perspektive sehe …….

Fairer Umgang miteinander?

Vor ein paar Tagen hat Arno Peper bei Twitter den Hashtag #fairerUmgangmiteinander ins Leben gerufen. Es geht ihm dabei darum, der Verrohung der Sprache etwas entgegenzusetzen und damit auch zu verhindern, daß immer mehr Menschen Twitter verlassen oder sich zurückziehen.
Grundsätzlich finde ich die Idee gut. Gleichzeitig sehe ich für mich einige Herausforderungen, die ich in einem Tweet auch schon erwähnt habe, hier aber etwas genauer „beleuchten“ möchte.

1. Verrohung der Sprache
Sprache ist für mich – nicht nur bei Twitter – ein sehr wichtiges Kriterium. Ich glaube nicht, daß man Schimpfwörter oder „beleidigende Bezeichnungen“ (ich meine das nicht im strafrechtlichen Sinne) braucht, um miteinander zu sprechen oder zu diskutieren. Ein gutes Gespräch kann und muß ohne solche Begriffe auskommen. Gleichzeitig merke ich vermehrt, daß bei Twitter eine Art von Sprache Einzug hält, sozusagen salonfähig wird, die ich für mich nicht mag. Nein, diese Sprache ist nicht verboten und ich möchte auch nichts verbieten. Definitiv nicht. Aber es macht mir keinen Spaß, Unterhaltungen zu verfolgen oder daran teilzunehmen, in denen Menschen sich gegenseitig aufgrund abweichender Einstellungen als Dummköpfe, Denunzianten etc. bezeichnen (und das sind jetzt völlig harmlose Beispiele). Da bin ich einfach am falschen Ort. Ich habe schon sehr frühzeitig angefangen, nur Menschen zu folgen, die solche Begriffe – in der Regel – nicht verwenden und ich bin heute sehr dankbar dafür. Trotzdem merke ich auch in meiner Timeline den Trend zu einer Verrohung.

2. Etwas dagegen tun?
Ja und nein, also ein deutliches „jein“. Ich selber achte sehr darauf, auch in Momenten starker emotionaler Betroffenheit keine Schimpfwörter/beleidigenden oder abwertenden Bezeichnungen zu nutzen (auch wenn es in mir drin manchmal brodelt). Nichts wird besser, wenn ich auf meine eigenen sprachlichen Ansprüche verzichte, im Gegenteil – das „Gespräch“ würde vermutlich noch stärker aus dem Ruder laufen und ich würde mich hinterher selbst verachten. Nein, Verrohung meiner Sprache ist für mich kein Gegenmittel.
Meist führe ich Gespräche, die solche Begriffe enthalten nicht weiter oder gehe zumindest darauf nicht ein. Es macht keinen Sinn, einen sprachlichen Abgrund noch zu vertiefen. Da wo ein gemeinsames Gespräch eben nicht möglich ist, würde jedes weitere Wort alles nur verschlimmern. Ich denke hier sofort an die Stufen der Konflikteskalation nach Friedrich Glasl – „gemeinsam in den Abgrund“ ist die letzte Stufe der Eskalation, die bei Twitter in der Regel das ein- oder gegenseitige Blocken ist. Kommunikation ist dann nicht mehr möglich, eine „Konfliktlösung“ auch nicht.
Eigentlich wäre es spannend, sich Twittergespräche mal unter der Maßgabe dieser Konflikteskalationsstufen anzuschauen…….

Eingreifen in Gespräche anderer? Eher nein. Das wäre so etwas wie die Stufe 4 von Glasl – Koalitionen. Man ist in dem Moment zumindest für einen der Gesprächspartner nicht neutral. Wenn ich also einem Twitterer „vorwerfe“, daß er/sie eine unangemessene Sprache verwendet, dann verstärke ich vermutlich den Konflikt. Gleichzeitig fühlt es sich oft schlecht an, wenn Menschen „angegriffen“ werden, deren Meinungen/Tweets man schätzt.

Den Hashtag #fairerUmgangmiteinander verbreiten? Einerseits finde ich den Gedanken dahinter gut, andererseits stehe ich ungern für etwas ein, das ich inhaltlich nicht erklären/definieren kann und was – weil auf Twitter angelegt – flüchtig ist. Für mich hat der Hashtag drei Herausforderungen, die ich im folgenden ansprechen möchte.

3. Die Flüchtigkeit von Tweets
Tweets sind flüchtig. Das ist durchaus gut so, denn sie haben für mich in der Regel den Charakter von momentbezogenen Äußerungen oder Gesprächen. Es ist nicht wirklich wichtig, zu „bewahren“, was ich vor ein paar Tagen zu irgendjemand im Supermarkt oder im Bus gesagt habe. Twitter ist für mich vergleichbar. Deswegen ist für mich eine Initiative, die sich ganz klar auf Twitter beschränkt, von vornherein beschränkt. Ich kann nur begrenzt nachlesen, was sie ausmacht, wer dazu gehört, wer was darunter versteht. Meines Erachtens würde eine Verstetigung/Verbreitung der Initiative einen festen Ausgangspunkt außerhalb von Twitter brauchen, auf den in Tweet auch verlinkt werden könnte. Aber das ist meine persönliche Meinung.

4. Was ist eigentlich fair?
Das ist für mich der schwierigste Teil – was ist eigentlich „fair“? Wikipedia definiert „fair“ beziehungsweise „Fairness“ wie folgt: „Fairness geht als Begriff auf das englische Wort „fair“ („anständig“, „ordentlich“) zurück. Fairness drückt eine (nicht gesetzlich geregelte) Vorstellung von Gerechtigkeit aus. Fairness lässt sich im Deutschen mit akzeptierter Gerechtigkeit und Angemessenheit oder mit Anständigkeit gleichsetzen.“

Alles klar, oder?
Vermutlich hat fast jeder Mensch einen eigenen Begriff von dem, was er/sie als fair, anständig beziehungsweise gerecht empfindet. Oftmals empfinden wir Dinge, die wir selber machen/aussprechen als anständig und gerecht (weil: es ist ja so!), Dinge, die andere machen/aussprechen aber nicht (weil: der-/diejenige hätte mich ja mal vorher fragen können).

Letzlich ist hier wohl die goldene Regel „was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg auch keinem anderen zu“. Für mich persönlich haben sich im Laufe der Zeit (und durchaus beeinflußt durch die Mediationsausbildung in der Zeit von 2010 bis 2012) einige Punkte ergeben, die ich bei Gesprächen/Kontakten für mich versuche zu beachten – versuchen deshalb, weil Menschen immer Fehler machen und ich auch oft erst später merke, daß ich meine eigenen Prinzipien nicht beachtet habe.

5. Grundsätzliche Prinzipien
Damit ich „fair“ kommunizieren kann, muß ich für mich einige Grundbedingungen oder Prinzipien einhalten. Wenn ich selber diese Grundbedingungen oder Prinzipien einhalte, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß ein Gespräch auch über schwierigere Themen möglich ist. Natürlich kann es trotzdem schieflaufen – denn schließlich führe ich das Gespräch nicht alleine. Mein Gesprächsanteil kann daher positiv oder negativ sein – trotzdem kann das Gespräch „kippen“ und dann bleibt manchmal nur die Möglichkeit für eine gewisse Zeit Gesprächen mit dem/der Gesprächspartner/in aus dem Weg zu gehen, den-/diejenige stummzuschalten, zu entfolgen und/oder zu blockieren. Das eigene Wohlbefinden ist an der Stelle wichtiger als das Wohlbefinden der anderen Gesprächsbeteiligten!

* Wem folge ich und worauf antworte ich?
Menschen äußern auf Twitter ihre Gedanken und Ansichten. Wenn mir die Äußerungen von vornherein nicht gefallen, dann gibt es keinen Grund diesen Menschen zu folgen oder ein Gespräch zu beginnen. Ja, gelegentlich tappe ich auch in die Falle mit dem Gespräch ….. Aber so ganz grundsätzlich als Beispiel: ich mag keine Schokolade (wirklich!!). Gestern oder heute las ich in einem Tweet, daß „ein Leben ohne Schokolade möglich aber sinnlos ist“. Welchen Wert hätte es zu antworten, daß ich Schokolade nicht mag? Es sind oft diese „Du bist dumm/blöd/…., weil Du das magst/oder nicht magst“-Kommentare, die verletzen können. Ich habe das bei eigenen Tweets im Frühjahr oft erlebt. Ja, die Antworten sind oft sogar gut gemeint, aber ich fand sie nicht hilfreich, weil sie meine Ansicht zu einem bestimmten Punkt grundlos in Frage stellen und mir das Gefühl geben, „Deine Ansicht ist nicht in Ordnung“. Doch! Wenn jemand eine Ansicht hat, dann kann ich gegebenenfalls fragen, warum er/sie diese Ansicht hat, aber ich muß doch nicht widersprechen. Damit kommen wir zum nächsten Punkt.

* Fragen stellen
Tweets sind relativ kurze Texte. Manchmal macht man sich über irgendwelche Dinge lange Gedanken, formuliert Sätze im Kopf hin und her und schreibt dann einen Tweet. Dieser Denkvorgang ist im Tweet in der Regel nicht sichtbar. Das, was für mich klar und positiv ist, kann für andere falsch klingen. Statt nachzufragen, wie etwas gemeint ist, kommt dann oft ein Kommentar/eine „gut gemeinte Empfehlung“, die zum Thema/zum Gedanken überhaupt nicht paßt.
Das paßt übrigens auch zur Diskussion um den dpa-Tweet zum Interview mit Carsten Linnemann. Die dpa hat einen Gedanken bewußt überspitzt und damit eine „Diskussion“ (ok, einen „Shitstorm“) nur auf Basis dieser Überschrift losgelöst. Ich habe die Entwicklung der Diskussion voller Spannung verfolgt – auch weil sie das Anspringen auf bestimmte Begriffe (unabhängig von meiner inhaltlichen Ansicht) hervorragend zeigt. Toll fand ich übrigens, daß die dpa die Überschrift korrigiert und das auch getwittert hat. Was an der Diskussion bezeichnend war: kaum jemand hat den Text gelesen oder noch einmal gefragt, hat er wirklich „Grundschulverbot“ gesagt, die meisten haben den Begriff als „so ist es“ angenommen und nur auf diesen Begriff reagiert. Damit kommen wir zum nächsten Punkt.

* Verlinkte Inhalte lesen und nicht nur auf die Überschrift/Stichworte reagieren
Ich retweete in der Regel keine Texte, die ich nicht selbst gelesen habe (Ausnahmen bei besonders vertrauenswürdigen Twitterern!). Das was für den Retweet gilt sollte auch für das Gespräch über ein Thema gelten. Ein Teil unserer kommunikativen Probleme hängt für mich damit zusammen, daß wir Worte/Begriffe aus dem Zusammenhang reißen, uns über unsere Vorstellungen von dem Gemeinten empören – ohne zu fragen „hast Du das so gemeint, wie ich das gerade verstehe“ und damit gelegentlich eine „Empörungswelle“ lostreten, die sich nicht mehr aufhalten läßt. Das zusätzlich schwierige: man kann in diesem Moment praktisch nicht mehr deeskalierend eingreifen.

* Trennung von Person und Sache
Es ist für mich ein Riesenunterschied, ob jemand sagt „Du bist dumm“ oder „Deine Ansicht zum Thema X ist dumm“ (wobei ich auch disese Formulierung persönlich vermeide, bei mir ist es dann im schlimmsten Fall eher „unsinnig“). Ja, auch ich kann mich irren und Gespräche können durchaus dazu führen, daß ich über etwas nachdenke, nach „Beweisen“ suche oder nach der Begründung des Gesprächspartners für die von ihm/ihr geäußrte Ansicht frage. Kein Mensch kann alles wissen. Menschen können sich informieren, sie können lernen – dafür muß ich dem anderen Menschen aber diese Fähigkeit zugestehen. Wenn ich einzelne Punkte/Themen „kritisiere“ fühlt sich das anders an, als wenn ich den Menschen an sich abwerte.
Der zweite wichtige Punkt: auch Menschen, die ich persönlich schätze, müssen nicht in allen Punkten meiner Meinung sein. Gespräche wären langweilig, wenn alle immer dasselbe denken und gut finden würden. Kreativität und Innovation brauchen eine gewisse Reibung. Was ich bei Twitter immer wieder erlebe und problematisch finde: „wenn Du in dem Punkt nicht unserer Ansicht bist, dann gehörst Du nicht zu uns“, also eine Spaltung in „für uns oder gegen uns“. Das macht vieles schwierig – gerade für mich persönlich!

* Dem anderen zubilligen, daß er/sie einen guten Grund für sein/ihr Handeln/Äußerungen hat
Das war eine der schwierigsten „Lektionen“ in der Mediationsausbildung. Ich weiß noch, daß wir an dem Samstag nach dem Kurs zu mehreren essen waren und etwas ratlos über diese Frage diskutiert haben. Unser Diskussionbeispiel damals war (wenn ich mich richtig erinnere) ein Überfall auf eine Apotheke, bei der ein Vater ein Medikament für sein krankes Kind haben möchte. Aus Sicht des Vaters ein „guter Grund“ – er möchte, daß das Kind gesund wird. Aus meiner Sicht (und aus Sicht der Apotheke, der Richter etc.) kein guter Grund. Was wir damals herausgearbeitet haben: ich muß den Grund kennen, um das Handeln/die Äußerungen von anderen Menschen zu verstehen – wobei „verstehen“ nicht „akzeptieren“ oder „gut finden“ meint. Wenn man Menschen auf Twitter länger folgt, dann kann man manche Äußerungen aufgrund ihrer Erfahrungen nachvollziehen. Da wo man es nicht kann hat man eigentlich zwei Möglichkeiten: schweigen oder fragen („warum ist Dir das wichtig?/warum machst Du das?“).
Ich persönlich glaube, daß es ein Teil unserer heutigen Probleme ist, daß wir „am Anfang“ nie gefragt haben, warum Menschen sich für bestimmte Ideen begeistern oder warum sie Angst haben. Wir haben immer nur gesagt, daß das „dumm“ ist. Mir hilft es bei vielen Äußerungen mir deutlich zu machen, daß der/die andere einen „guten Grund“ für seine Äußerungen hat, auch wenn dieser Grund für mich kein „guter Grund“ ist.

* Umgang mit Emotionen
Ich habe lange gedacht, daß es hilft, sachlich miteinander umzugehen. Das ist aber kein Schlüssel für „erfolgreiche“ beziehungsweise „gute“ Kommunikation. Es gibt immer Themen, bei denen wir emotional betroffen sind – weil wir Erfahrungen mit dem Thema gemacht haben, weil wir oder Menschen aus unserem Umfeld davon betroffen sind. Ich habe gerade durch Twitter viel über Menschen und ihre Erfahrungen gelernt – fehlende Inklusion, Umgang mit Rassismus zum Beispiel – alles Dinge, die ich persönlich so nie erlebt habe. Ich bin dankbar, daß ich solche Erfahrungen nie machen mußte (ich habe dafür andere Erfahrungen gemacht, die auch nicht alle schön sind). Es ist oft die Emotionalität dieser Äußerungen, die mir das Ausmaß der Qual oder der Angst deutlich macht. Ich möchte diese Tweets nicht missen – nicht weil ich schlechte Erfahrungen von Menschen schön finde, sondern weil ich Dinge und Äußerungen für mich kritisch hinterfragen kann.
Für mich habe ich folgenden Umgang gefunden: wenn Menschen etwas Schöne erleben und davon schreiben, dann freue ich mich mit ihnen, manchen schreibe ich das auch unter den Tweet. Wenn Menschen schlimmes erleben, dann lese ich das, meistens kommentiere ich aber nicht (Ausnahme: Krankheiten/Todesfälle im engeren Twitterumfeld).

* Umgang mit Sprache
Ich selber nutze auf Twitter (und auch sonst) keine Schimpfwörter. Die inflationäre Nutzung von abwertenden Begriffen lehne ich für mich ab und ich zucke auch oft, wenn ich sie in Tweets von anderen sehe. Letztlich kann ich gute Gespräche nur dann führen, wenn ich gute Sprache nutze, zuhöre und mich mit etwaigen Argumenten inhatlich auseinandersetze, nicht mit Abwertung. Eine persönliche Verletzung durch abwertende Begriffe macht ein Gespräch unmöglich. Für mich gehören ganz viele Begriffe dazu (angefangen bei „dumm“, „Dummkopf“ und „Idioten“ bis hin zu strafrechtlich relevanten Äußerungen).
Meine persönlichen Entscheidungen:
– ich fave/retweete keine Tweets, die für mich sprachlich nicht in Ordnung sind – selbst dann nicht, wenn ich den Grundgedanken teile
– ich folge Menschen nicht, in deren Tweets ich eine Vielzahl solcher Begriffe sehe

Ich hoffe, daß ich mit diesen Prinzipien zumindest sprachlich selten „unfair“ bin.

6. Und nun?
Arno Peper hat vorgeschlagen, Menschen auf unfaire Sprachnutzung hinzuweisen. Das finde ich schwierig, zumal die Frage, was ich empfinde ja nichts mit dem Empfinden der Gesprächspartner zu tun haben muß und es eben keine eindeutige Definition für „unfair“ gibt.

Was ich mir vorstellen könnte (hatte ich schon als Tweets geschrieben):
– eine Blogparade, um Ideen zu diesem Thema zu sammeln
– eine Art freiwillige Selbstverpflichtung zum fairen Umgang miteinander (so etwas wie die X Prinzipien des fairen Umgangs)
– selber mit dem Hashtag um fairen Umgang zu bitten, wenn ich mich in einem Gespräch „angegriffen“ fühle

Heute schon etwas Nettes gesagt oder geschrieben?

Heute ist der Tag der Komplimente. Ein Tag, dessen Bezeichnung mich gerade angesichts der an vielen Orten zunehmenden „Kommunikationsunkultur“ einerseits ein bißchen ratlos macht, andererseits dazu motiviert über mein eigenes Kommunikationsverhalten (gerade auch in sozialen Medien) nachzudenken.

Das Spiel mit Nähe und Distanz
Vor ein paar Jahren habe ich an der Akademie der Ruhr-Universität eine zweijährige Weiterbildung im Bereich Mediation und Konfliktmanagement absolviert. Es war eine Zeit, in der ich natürlich viel über Mediation, Konflikte und Methoden zur Konfliktlösung gelernt habe. Gleichzeitig habe ich aber auch viel über mich selbst gelernt – gerade auch im Hinblick auf mein Auftreten, meine Selbstwahrnehmung und die (jeweilige) Fremdwahrnehmung. Kommunikation spielt da natürlich eine große Rolle. Es war interessant und gleichzeitig eine Herausforderung, dieses Thema auch in der Studienarbeit zum Thema Kooperation zu vertiefen. Meine berufliche Herangehensweise, die sich auch in meiner Kommunikation zeigt, ist von der Tendenz her „kritisch-analytisch“. Eine Herangehensweise, die natürlich mit einer gewissen Distanz verbunden ist. Diese Distanz empfinde ich für mich im beruflichen Bereich als hilfreich und notwendig, vor allem um (rechtliche) Probleme überhaupt zu sehen und ansprechen zu können. Die (fast natürliche) Folge ist eine eher fehler- und defizitorientierte Gesprächskultur – ich sehe das, was fehlt, was falsch ist, was problematisch ist und auch mir wird eher berichtet, was fehlt, noch nicht fertig ist, noch gemacht werden muß. Dank und Lob gibt es natürlich auch – aber schon eher selten und in eher kleinen Portionen. Ich schreibe das nicht, weil ich jetzt bemitleidet werden möchte, sondern eher als Ausgangspunkt meiner Überlegungen, die auch mit den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun haben.

Kooperation ist aber gerade auch das Herstellen von Nähe – kommunikativer Nähe. Das war für mich ein durchaus schwieriger Aspekt, mit dem ich mich für meine Studienarbeit bewußt beschäftigen mußte.

Meine damalige Aufgabe an mich: etwas Nettes schreiben
Im Januar 2012 durfte ich meine Studienarbeit als erste in unserer Gruppe präsentieren. Ich hatte lange überlegt, wie ich das Thema angehe. Schriftlich hatte ich zu dem Thema Nähe und Distanz einige persönliche Absätze geschrieben, aber ich wollte das, was ich gelernt hatte, auch in der Praxis „zeigen“. Nach längerem Nachdenken kam ich auf die Idee für jeden Teilnehmer der Weiterbildung einen eigenen Briefumschlag mit einer freundlichen Botschaft zu schreiben. Bei einigen, mit denen ich damals befreundet war, fiel mir das ziemlich leicht. Bei einigen weiteren, mit denen ich mich gerne unterhielt, war das auch noch ziemlich einfach. Aber bei einigen war es auch ziemlich schwierig. Nicht jeder Kursteilnehmer war mir in den zwei Jahren gleichermaßen ans Herz gewachsen ……. Ich weiß heute nicht mehr, was ich den Einzelnen geschrieben habe und das ist auch nicht wichtig. Es war das bewußte Durchbrechen von Distanz und kritischer Analyse, die für mich ein besonders schönes Erlebnis war.

Und was hat das mit dem Tag der Komplimente zu tun?
Meine damalige Erfahrung hat interessanterweise viel mit dem Tag der Komplimente zu tun. Ich sehe einerseits oft sehr überschwängliche Worte, die ich selber nicht nutzen würde (Beispiel: die wunderbare X, der wunderbare Y), ich sehe andererseits oft sehr harte Worte, die aufgrund der räumlichen Distanz und der Wortwahl als noch einmal härter wahrgenommen werden, als sie (vermutlich) gemeint sind. Aus harten Worten werden dann oft harte und feindliche Schlagabtäusche, die mit Gesprächen und Kommunikationskultur nichts mehr zu tun haben. Wie wahr fühlt sich da oft der Ausspruch „der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ an.

„Dummerweise“ können wir aber nicht allein existieren. Der Ausspruch „Niemand ist eine Insel“ macht das deutlich – Gesellschaft braucht eine gewisse (kommunikative) Nähe. Diese Nähe kann durch einen Gruß, ein freundliches Wort oder ein Lächeln entstehen. Nadia Zaboura hat das auf Twitter vor kurzem als „soziales Gewebe“ bezeichnet. Eine schöne Bezeichnung wie ich finde.

Das Gewebe der freundlichen und netten Äußerungen
Der Begriff des Kompliments hat mir immer Bauchschmerzen bereitet, weil das lobende oder schmeichelnde Element so stark herausklang. Es stellt sich jedoch ganz anders dar, wenn wir eher an wohlwollende oder freundliche Äußerungen denken. Komplimente sind dann nicht mehr „freundliche Lügen“ (Du siehst heute aber gut aus) oder aktueller „alternative facts“, sondern ein Faden im Gewebe der Gesellschaft – ein Faden, der ein Gespräch werden kann – was wiederum wunderbar zum Begriff des „Threads“ (Gesprächsfaden) paßt. Wenn aus einzelnen Fäden ganz viele Gesprächsfäden werden, dann können wir gemeinsam Gesellschaft gestalten.

Ja, mir fällt es heute noch weniger als damals (für meine Kurskollegen) leicht, gute und freundliche Worte für die Menschen zu finden, deren Einstellungen, Worte und Handlungen ich ablehne. Aber mit völliger Ablehnung spiele ich das Spiel mit und schneide Fäden ab und ich habe gerade nicht das Gefühl, das zerschnittene Fäden ein gutes soziales Gewebe sind. Vielleicht schaffe ich es nicht, die Worte zu schreiben oder auszusprechen – aber (und auch das ist etwas, was ich aus der Weiterbildung mitgenommen habe) ich werde intensiv darüber nachdenken, welchen guten Grund jede(r) Einzelne hat, so zu reden und zu handeln, wie er/sie es tut.

Schere oder Schublade?

Es ist keine einfache Zeit – weder in der „analogen“ noch in der „digitalen“ Welt. Was auch immer man macht oder nicht macht, kann falsch sein oder falsch verstanden werden. Äußerungen oder Vorgehensweisen, die „gestern“ undenkbar waren, sind denkbar und sagbar geworden; Äußerungen, die „gestern“ bestenfalls ein Kopfschütteln geerntet hätten, führen manchmal zu heftigen emotionalen Reaktionen. Schon die Verwendung einzelner Worte wie Angst, Besorgnis oder besorgt ist nicht mehr harmlos, „Befürworter“ und „Gegner“ legen diese Begriffe gleichermaßen eng aus, urteilen negativ über Menschen, weil sie bestimmte Begriffe verwenden, weil Äußerungen ihnen mißfallen oder ihren eigenen Äußerungen (scheinbar) widersprechen. Dabei spreche ich hier nicht über Politiker oder Prominente, die ohnehin in der Öffentlichkeit stehen, auch nicht über Menschen, die sich beruflich mit Berichterstattung befassen, sondern über die „normalen Menschen“, die sich über Netzwerke wie Twitter informieren und austauschen.

Ich habe lange überlegt, ob ich über meine subjektive Wahrnehmung schreibe (und ja, vielleicht sollte ich das besser nicht tun), aber die Art und Weise, wie wir „online“ miteinander umgehen, beinflußt doch sehr stark die Frage ob und zu welchen Themen ich mich äußere.

Ja, und …… wir bewerten doch täglich!
Jeden Tag treffen wir Menschen viele Entscheidungen. Wir bewerten Situationen und Menschen, ohne groß über diese Bewertung nachzudenken – wohl die meisten dieser Einschätzungen und Bewertungen erfolgen unbewußt. Wir urteilen (unter anderem) auf der Basis unserer Erfahrungen, unserer Vorlieben, unserer Stimmungen. Jedes dieser Urteile ist subjektiv (auch wenn wir es oft anders empfinden und viele unserer Entscheidungen mit – vermeintlich – objektiven Gründen „erklären“ können), doch meistens haben unsere Entscheidungen, unsere Bewertungen wenig Auswirkungen auf andere Menschen. Ob ich jemanden sympathisch finde, jemandem auf Twitter folge (oder auch nicht), ein Geschäft verlasse, weil ich die Bedienung unfreundlich finde oder einer Empfehlung folge, ist – außer für mich – nicht wirklich wichtig. Auch die Frage, welche Kriterien bewußt oder unbewußt zu einer positiven oder negativen Bewertung führen, sind – außer für mich (soweit mir die Kriterien überhaupt bewußt sind) – kaum von Bedeutung.

Wortwahl oder gewählte Worte
Ein Indikator für die Einschätzung von Situationen oder von Menschen kann Sprache und die Verwendung von Sprache sein. Sprachwahl, Wortwahl, Aussprache und Lautstärke können in der analogen Welt Kriterien sein, die mich anziehen oder abschrecken und die damit Einfluß auf meine Einschätzung und Entscheidung über Sympathie oder Ablehnung, dafür oder dagegen, Bleiben oder Gehen haben. Meist entsteht ein Gesamteindruck, der sich in der analogen Welt aus sprachlichen und visuellen Eindrücken ergibt. In der digitalen Welt fehlt uns in vielen Bereichen die visuelle Komponente. Kommunikation und auch die „richtige“ Bewertung und Interpretation von Kommunikation wird damit schwieriger. In der realen Welt kann ich auf einen grimmigen Gesichtsausdruck anders reagieren als auf ein verschmitztes Lächeln oder ein ironisches Grinsen, in der digitalen Welt fehlt mir in stark textbasierten Bereichen (wie zum Beispiel Twitter) diese Möglichkeit, die Gefahr von Fehlinterpreationen und Mißverständnissen steigt mit dieser „Begrenzung“.

Trotzdem entscheidet selten ein einzelner Tweet oder gar ein einzelnes Wort über meine Einschätzung – Ausnahmen können grobe Schimpfworte oder Beleidigungen sein. Die Wortwahl an sich und nicht das einzelne „gewählte“ Wort ist für mich daher meist der Indikator um in einem textbasierten Umfeld zu entscheiden, ob ich mir vorstellen kann, mit jemandem ein Gespräch zu führen. Auch da gilt natürlich – wie überall im Leben – daß ich mich irren kann. Vielleicht übersehe ich manchmal Menschen, denen ich unbedingt folgen sollte, vielleicht folge ich manchmal Menschen, die zu hart urteilen und vielleicht kommt es daher, daß ich immer wieder bei Twitter mitbekomme, daß die Verwendung einzelner Worte oder Begriffe zu Fehlannahmen, Mißverständnissen und irritierenden Tweetaustäuschen von Menschen führt, die ich eigentlich für weltoffen, gebildet und wortgewandt (aus meiner Sicht positive Eigenschaften) halte.

Die Gefahr der Schublade ….
Ganz ehrlich: welchen ersten Gedanken hätten Sie/hättet Ihr, wenn ich im Zusammenhang mit der aktuellen politischen Lage zum Beispiel von Ängsten spräche, wenn ich erwähnen würde, daß ich besorgt sei? Die Wahrscheinlichkeit, daß ich in einer (möglicherweise falschen) gedanklichen Schublade landen würde, ist wohl groß und da liegt das Problem. Angst und Sorgen sind nicht auf die eine oder andere „Seite“ begrenzt. Ohne eine (vor allem kurze) Äußerung zu hinterfragen und in Verbindung mit anderen Äußerungen zu bringen, ist die Einordnung in die eine oder andere Schublade notwendigerweise „verkürzt“. Die bloße Tatsache, daß wir einen bestimmten Begriff oder eine bestimmte Formulierung (zum Beispiel „besorger Bürger“) als Leser (und im Zweifel unbekannte Empfänger) eines Tweets auf eine bestimmte Art und Weise (zum Beispiel „rechts“) wahrnehmen und einordnen, heißt nicht, daß der Schreiber des Tweets beim Schreiben des Tweets diese Art der Wahrnehmung erreichen wollte.

Kommunikation ist schon zu normalen Zeiten ein schwieriges Feld. Wie oft laufen Gespräche selbst mit Menschen, die man mag, schief? Wie oft wird aus einem Gespräch ein Zerwürfnis? Und wie schwierig ist es oft, kommunikative Gräben zu überwinden?

In der Kombination mit heiklen und hochkomplexen Themen wird Kommunikation unter Menschen, die sich nicht, nur wenig oder nur textbasiert „kennen“ noch einmal schwieriger. Es mag verlockend und vor allem verlockend einfach sein, die Entscheidung über das „gewählte Wort“ als Aussage über die Einstellung des „Senders“ genügen zu lassen. Damit würden aber die (dem Verfasser zumeist unbekannten) Leser eines Tweets jeweils für sich in Anspruch nehmen, daß ihre Wahrnehmung eines Tweets immer richtig ist, daß sie in der Interpretation nicht irren können. Bequem für die Leser, höchst unbequem und problematisch für die Text- beziehungsweise Tweetverfasser – zumal dies beinhaltet, daß nur die Sender/Verfasser die Verantwortung für eine gute und gelungene Kommunikation tragen.

Solange die Sender/Verfasser nichts von den „Schubladen“ mitbekommen, mag das noch relativ „harmlos“sein. Anders wird es, wenn Empfänger/Leser abwertend, angreifend oder verurteilend reagieren oder ihre Wahrnehmung beziehungsweise Interpretation als „die Wahrheit“ (X ist …..) verkünden. Immer wieder eskalieren dann „Twitter-Gespräche“ mit einer unglaublichen Geschwindigkeit zu verbal vermintem Territorium.

Aus der Perpektive der Betrachterin/nicht beteiligten Leserin läßt sich dies natürlich einfach feststellen und „verurteilen“. Mir selbst geht es oft ja nicht anders: bei manchem Begriff denke ich auch zuerst „wirklich?“ oder „nicht auch noch“ und überlege mir dann erst in einem zweiten gedanklichen Anlauf, ob ich nicht besser nachfragen sollte, ob ich den Sinn/die Botschaft richtig verstanden habe.

Warum das alles wichtig ist? Ganz einfach: die Gefahr der Einsortierung in Schubladen …..

…. führt zur Schere im Kopf
Die Schnelligkeit der Einordnung in „Schubladen“ und die damit oft verbundenen negativen und abwertenden Reaktionen und Diskussionen empfinde ich – auch als Leserin und Betrachterin – als belastend. Einerseits möchte ich mich zu vielen Themen und Geschehnissen äußern, andererseits befürchte ich, vorschnell und ohne Rehabilitationsmöglichkeit in einer aus meiner Sicht unpassenden (für mich negativen Schublade) zu landen.

Belastend ist dabei nicht die Tatsache, daß Texte/Tweets inhaltlich diskutiert werden oder daß inhaltlich ablehnende Rückmeldungen kommen. Im Gegenteil: das gehört zu einer guten Diskussion und ich habe in der Vergangenheit gerade online durch solche Diskussionen viel gelernt – und dies gerade dann, wenn ich völlig anderer Meinung als mein Diskussionspartner war. Ich finde es aber belastend, wenn aufgrund von Tweets die (vermeintliche) Einstellung von Menschen verurteilt und angeprangert wird. Ein „Du bist rassistisch“ empfinde ich als ungleich härter und verletzender als „Das klingt rassistisch. Meinst Du das so?“.

Selbst wenn ich mich noch so sehr bemühe, kann es immer sein, daß jemand meinen Text/meinen Tweet mißversteht. Auch mit diesem Text kann das durchaus passieren. Ich wünsche mir eine inhaltliche Diskussion, gerade auch um die „leisen Stimmen“, die in letzter Zeit so oft erwähnt werden, sichtbar zu machen und gleichzeitig habe ich Bedenken, daß Texte oder Tweets „angeprangert“ werden und ich auch auf der Seite der Menschen, denen die Themen Demokratie, Rechtsstaat und Meinungsfreiheit wichtig sind, alleine stehe. Die Folge ist, daß ich im Moment oft zögere und über manche Themen gar nicht schreibe. Die Alternative zur Schublade ist die Schere im Kopf – sozusagen die „Selbstzensur“. Eine schlechte Alternative – das möchte ich zugeben und deshalb hoffe ich, daß wir es schaffen, anders miteinander umzugehen!

Wie gehen Sie/geht Ihr damit um? Schreiben oder schweigen?