Hoffnungslos oder realistisch?

Gestern habe ich das Buch „Miese Stimmung“ (Untertitel: Eine Streitschrift gegen positives Denken) von Arnold Retzer zuende gelesen. Ich hatte das Buch vor ein paar Jahren schon einmal angefangen, aber nie zuende gelesen. Gerade in Zusammenhang mit meinem letzten Beitrag in diesem Blog und dem Thema „Hoffnungslosigkeit“ war das Buch sehr passend – es hätte keinen besseren Zeitpunkt für die Lektüre dieses Buches geben können. Ich möchte hier ein paar erste Gedanken festhalten.

Der Gedanke der Ambivalenz
Ich mag den Gedanken der Ambivalenz – also die Tatsache, daß etwas gleichzeitig gut und schlecht sein kann, bitter und süß, halt doppeldeutig. Dieser Gedanke kommt auch wunderbar in dem Buch „111 Tugenden, 111 Laster“ (Untertitel: Eine philosophische Revue) von Martin Seel zum Ausdruck.
Wenn Hoffnung die „positive Seite“ ist, was ist dann die negative Seite? Hoffnungslosigkeit oder Realismus? Retzer bezeichnet Hoffnung an einer Stelle als Informationsignoranz, Seel unterscheidet zwischen begründeter Hoffnung und blinder Hoffnung.
Ich selbst habe mir – bevor ich das Buch von Retzer gelesen habe – ganz deutlich die Frage gestellt, wann und wie „Hoffnungslosigkeit“ sich in den letzten Jahren in meinem Leben ausgewirkt hat. Erstaunlicherweise habe ich mich sofort an zwei Situationen erinnert, die – über die Jahre hinweg – eng miteinander verbunden sind.

Rückblick 1: Februar 2018
Es ist der Abend der Erinnerungsveranstaltung der Organisation, die meine Mutter im November 2017 ein paar Tage lang palliativ zuhause betreut und begleitet hat. Es ist ein gutes Gefühl, dort hinzugehen. Nach der eigentlichen Veranstaltung, die sehr schön gestaltet ist und die natürlich auch noch einmal ein paar Tränen mit sich bringt, spreche ich länger mit einer der betreuenden Schwestern. Als ich ihr erzähle, daß mir das Sterben meiner Mutter im August bewußt geworden ist und ich sie bewußt bis zum Ende begleitet habe, sagt sie mir, daß das eher selten ist.
Ich frage mich im Anschluß an das Gespräch, warum ich das tatsächlich gemerkt habe und kann es mir nicht erklären.

Rückblick 2: Juli 2012
Meine Mutter hat gerade die Diagnose Krebs (genauer metastasierter Brustkrebs) erhalten. Ich begleite sie zu den wichtigen Gesprächen. Ich bestelle mir Bücher zum Thema, informiere mich umfassend, lese in den entsprechenden Foren viele Erfahrungsberichte – gerade auch die Berichte von Menschen, die schon verstorben sind oder im letzten Stadium der Krankheit sind. Ich weiß, daß meine Mutter nie mehr gesund werden wird und daß es nur darum geht, die verbleibende Lebenszeit „gut“ – also mit hoher Lebensqualität zu verbringen.

Mit dem Wissen von heute…..
Mit dem Wissen von heute kann ich sagen, daß ich damals „hoffnungslos“ war. Ich habe nie auf Heilung gehofft oder auf ein Wunder. Ich wußte immer, daß eine schwierige Zeit kommen wird – ich hatte allerdings viel früher mit dieser schwierigen Zeit gerechnet. Jedes schöne Jahr war ein Geschenk, jeder gute Moment wurde zu einer wunderbaren Erinnerung. Im Wissen um die irgendwann kommende schwierige Zeit habe ich meine Mutter gebeten, mir mit einem gemeinsamen Urlaub eine schöne Erinnerung zu schenken (wir haben immer sehr offen über den Tod gesprochen!). Im Juni 2016 hat sie mir diese schöne Erinnerung geschenkt – ich war also irgendwie „vorgewarnt“. Die realistische Einschätzung hat mir die Kraft und den Mut gegeben, meine Mutter durch die Zeit der Krankheit und durch ihr Sterben zu begleiten. Und gerade weil ich nicht gehofft habe, konnte ich die Zeichen der Veränderung wahrnehmen, die sich im Sommer 2017 eingeschlichen haben.

Gut oder schlecht?
War das jetzt gut oder schlecht? Darauf gibt es vermutlich keine allgemein richtige Antwort. Ich kann es durchaus verstehen, wenn jemand in einer vergleichbaren Situation bis zum Ende die Hoffnung auf Heilung oder gar auf ein Wunder hat. Ich würde auch niemandem die Hoffnung nehmen wollen. Das ist auch der Grund, weshalb ich mich bei Antworten an Betroffene (Kranke oder Angehörige) stark zurückhalte. Mein Weg war für mich richtig, für andere Menschen kann er grundfalsch sein. Es ist diese Polarität, die mir durch das Lesen des Buches noch einmal sehr deutlich geworden ist. Menschen müssen mit ihrem Schicksal umgehen, sie müssen Dinge hinnehmen, die sie „nicht verdient“ haben, die „ungerecht“ sind. Ein standardisiertes „Du mußt hoffen“, „die Krankheit hat ihren Sinn“ oder „Du mußt kämpfen“ (gerade im Angesicht von Krankheiten) empfinde ich persönlich weder als hilfreich noch als passend. Und wenn man den Kampf verliert? Ist man dann schuld, weil man nicht genug gehofft oder gekämpft hat? Darf man den „Kampf“ oder die „Hoffnung“ aufgeben? Oder ist es so sehr Bestandteil unseres Menschen- und Gesellschaftsbildes geworden, daß der Kampf geführt werden muß, weil es ein guter Kampf ist?

Wo bleibt die Entscheidungsfreiheit?
Meine Mutter kam mit ihrem Onkologen sehr gut zurecht. Von manchen Patienten wurde er im Internet als wenig „empathisch“ geschildert, für meine Mutter war er genau richtig. Er hat sie nie bemitleidet, aber er hat sich immer gefreut, wenn es ihr gut ging oder wenn eine Behandlung anschlug. Am wichtigsten war aber: er hat meine Mutter immer entscheiden lassen. Ganz wörtlich! Ich erinnere mich an einige Gespräche bei denen ich dabei war. Wenn eine neue Behandlung notwendig war, dann haben wir einen Besprechungstermin gemacht. Er hat ein Mittel vorgeschlagen, durchaus mit dem Hinweis „wir könnten xxx versuchen“. Ich habe nach potentiellen Nebenwirkungen gefragt. Und dann hat er meine Mutter gefragt: Wollen Sie diese Chemo machen? Sie hätte jederzeit nein sagen können. Es gab nie die Pflicht zu hoffen oder zu kämpfen, es gab immer eine Wahl.

Das Ertragen der negativen Gefühle…..
Nicht alles in dieser Zeit war einfach, im Gegenteil. Meine Mutter hatte vor manchen Dingen Angst. Vor unserem ersten gemeinsamen Termin habe ich ihr eine Übung gegen Angst erzählt, die ich in einem der Krebsbücher gefunden hatte. Man sollte in Gedanken eine Treppe hochgehen, jede Stufe zählen und dann dann abwärts zählend wieder heruntergehen. Es war ein kleines Gespräch am Rande, eine Information, die sich auch einfach ignorieren konnte. Ich habe nie nachgefragt. Über ein Jahr später hörte ich, wie sie in einem Telefongespräch einer Bekannten von dieser Übung erzählte und wie sehr ihr diese Übung geholfen hatte.
Auch ich hatte immer mal wieder Angst, Angst vor den Nebenwirkungen der Chemos, Angst vor dem Fortschreiten der Erkrankung, Angst vor dem, was irgendwann kommen würde. Zu wissen, was kommen kann, macht vieles nicht einfacher. Unwissenheit kann durchaus eine Gnade sein, Nichtinformation stand für mich persönlich aber nie zur Wahl. Gerade mit meiner Entscheidung für das Höchstmaß an Wissen konnte ich meine Mutter bei dem Ziel „Lebensqualität“ gut begleiten. Letztlich habe ich im Rückblick das Gefühl, daß ich die Herausforderungen dieser Zeit – trotz oder gerade wegen des Zulassens der negativen Gefühle von Angst und Traurigkeit – gut gemeistert habe. Es war eine sehr intensive Zeit, zu der neben vielen sehr schönen Erlebnissen auch die angstvollen und traurigen Zeiten gehören.

Hoffnungslos oder realistisch?
Vieles, was ich einfach nur als realistisch einschätze, hört sich für andere Menschen „hoffnungslos“ an. In der unterschiedlichen Bezeichnung steckt sehr viel stärker eine Bewertung der zugrundeliegenden Haltung als ein inhaltlicher Unterschied. Ja, ich war und bin in vielen Dingen „hoffnungslos“. Ich habe diesen Begriff auch selber verwendet. Für mich fühlt es sich falsch an, für mich selbst auf etwas zu hoffen, daß realistisch gar nicht eintreten kann. Der (durchaus radikale) Verzicht auf Hoffnung erlaubt den Abschied von Menschen aber auch von Vorstellungen und Bildern, die man sich von sich selbst und seiner Zukunft gemacht hat. Es erlaubt das aktive Trauern und nach Abschluß der Trauerphase auch die Veränderung, die Schaffung neuer Bilder und Vorstellungen von einem selbst und von der Zukunft. Aber dazu werde ich vielleicht noch einmal separat etwas schreiben……

Dagegen!

Schon im Oktober 2015 entstand der Entwurf dieses Blogbeitrags. Ich habe ihn jetzt zuende geschrieben und nur unwesentlich verändert ….

Ich bin im Moment gegen Vieles. Es ist auch gerade sehr einfach „dagegen“ zu sein, denn es gibt so viele Dinge, die man „anprangern“ kann.

Ich bin nicht allein
Dagegen sein ist geradezu „in“ – wenn ich zum Beispiel in meine Twittertimeline schaue, dann waren auch heute zahlreiche Tweets dabei, die Vorgänge und Verhaltensweisen benennen, die auch ich ablehne.

Also alles in Ordnung. Denn wie so viele bin ich gegen
– Fremdenfeinlichkeit
– Rassismus
– den Tod von flüchtenden Menschen auf dem Meer
– Anschläge
– Angriffe gegen Menschen egal wo diese herkommen und welche Meinung sie haben
– Hasskommentare
– Transitzonen oder „Lager“ an den Grenzen
– eine Verschärfung des Asylrechts
– geschlossene Grenzen
– die Tatenlosigkeit und Entscheidungsunfähigkeit der EU
– Verrohung der Sprache

Diese Liste (die zum größten Teil tatsächlich schon im Entwurf 2015 stand) ließe sich problemlos fortsetzen. Wahrscheinlich habe ich sogar ein paar richtig wichtige Themen vergessen.

Gemeinsam dagegen?
Es ist natürlich „schön“ zu lesen, daß andere Menschen gegen etwas sind, was man selbst ablehnt. Aber es gibt zwei Aspekte, die mich nachdenklich machen – Vereinzelung und Filterblase.

Auch wenn ich im Laufe eines Tages viele „dagegen“ sehe und lese, so sind diese Äußerungen doch immer vereinzelt. Natürlich entstehen aus den Dagegen-Äußerungen immer wieder gute und aufschlußreiche Gespräche, aber letztlich bleiben es einzelne Ereignisse, einzelne Retweets und einzelne Favs. Es ist nicht einmal ein gefühltes „ich auch“, sondern eher eine lange Aufzählung der einzelnen und einzeln bleibenden „Ich-bin-dagegen-Stimmen“.

Was ich mittlerweile (2018) auch häufig sehe, ist eine Art von Verengung im Hinblick auf das „Dagegen“. Jede Äußerung von Verständnis für die andere Seite, jeder Vorschlag mit „denen“ ins Gespräch zu kommen, führt unweigerlich zu Diskussionen und manchmal auch unschönen Wortwechseln. Beschränkt sich unsere Toleranz darauf, daß wir alle gleichermaßen und im gleichen Ausmaß „dagegen“ sein müssen?

Besonders eindrücklich habe ich ein Twittergespräch im Frühsommer 2017 in Erinnerung. Der Bundestag hatte gerade für die Ehe für alle gestimmt. Eine grandiose Entscheidung – auch wenn ich persönlich davon überhaupt nicht betroffen bin. An einer Stelle habe ich in dem Gespräch gewagt, Verständnis für die Bundestagsabgeordneten zu äußern, die diese Entscheidung nicht mitgetragen haben und zwar insofern Verständnis, als auch Entscheidungen, die ich für falsch halte aus meiner Sicht von der Meinungsfreiheit abgedeckt sind. Es wurde ein ziemlich heftiges Gespräch. Die Unterscheidung, daß ich die Entscheidung gut fand und es mir nur grundsätzlich um die Meinungsfreiheit ging, war schlicht einfach nicht mehr möglich.

Und genauso erlebe ich viele Situationen jetzt. Entweder man ist mit Haut und Haaren bei der „Dagegen-Seite“ dabei oder man ist „draußen“. Wir kennen in unserer Argumentation kaum noch Nuancen. Wer nicht für uns (und damit mit uns „dagegen“ ist), ist halt gegen uns und gegen unser Weltbild. Wir zerfleischen uns – zur Freunde derer, die Grundgesetz und Demokratie nicht wirklich schätzen – selbst und völlig unnötig.

Wenn ich dagegen bin, wofür bin ich dann?
Was mich mittlerweile stark stört und irritiert ist, daß ich aus dem „dagegen“ nur selten ein „dafür“ ableiten kann. Ja, ich bin auch gegen die aktuelle Hartz IV-Regelung. Aber was folgt aus diesem „dagegen“? Auf welches Bild einer Gesellschaft, auf welche konkreten Schritte können wir uns einigen, damit das Leben für alle besser wird?

Mir fehlt – nicht nur in der Politik, sondern auch in der Gesellschaft – das Ziel, die Vision oder von mir aus auch die Utopie. Ich brauche etwas, das ich greifen kann, für das es sich lohnt zu diskutieren, zu streiten und sich zu engagieren. Das kann ein kleines Projekt sein, eine Blogparade – was auch immer. Aber ich sehe in der Ablehnung keine Bewegung, es ist eher etwas, was Hoffnungslosigkeit und Angst verbreitet. Ich bin dagegen und trotzdem tut sich nichts – trefflicher läßt sich Ohnmacht nicht formulieren. Und ja, das stört mich. Ich glaube nicht, daß wir machtlos oder gar ohnmächtig sind. Ich glaube nur, daß wir unsere Möglichkeiten bisher zu wenig wahrnehmen.

Dafür? Ja, für was, denn ….?
Heute morgen habe ich in einem Tweet von Dirk von Gehlen einen kurzen Ausschnitt zu Angst und Hoffnung gelesen. In einem gewissen Sinne glaube ich tatsächlich, daß wir mit Hoffnung mehr erreichen können. Wenn wir also unsere Ideen oder Projekte mit einer konkreten Hoffnung verbinden und diese auch aussprechen, dann könnten wir uns ganz anders verbinden und ganz andere Dinge erreichen. Ich möchte mich für ein starkes und beachtetes Grundgesetz einsetzen, für eine streitbare und funktionierende Demokratie, für die Würde aller Menschen! Ja, ich weiß noch nicht, wie ich das machen kann, aber die positive Formulierung eröffnet mir Türen, die meinem Denken vorher verschlossen waren.

Und wie ist es bei Euch? Dafür oder dagegen? Und wenn ja, wofür oder wogegen?

Die Suche nach dem richtigen Hashtag ….

Heute ist der 9. November. Ein Tag, der ohnehin schon „geschichtsbeladen“ ist. Bisher schlug dieser Tag für mich einen Bogen zwischen dem traurigen und schlimmen 9. November 1938 und dem freudigen 9. November 1989. Auf eine gewisse Art und Weise war das ein Bogen – eine Art „gutes Ende“ einer sehr schlimmen Geschichte.

Doch dieses Jahr kommt wieder ein 9. November dazu. Ich weiß noch nicht, ob er in seiner gesellschaftlichen, politischen und historischen Bedeutung das Ausmaß der beiden anderen Tage erreichen wird. In den USA wurde Trump zum Präsidenten gewählt. Der Wahlkampf war irritierend und verstörend. Mir ist schon klar, daß in dem Begriff „Wahlkampf“ eben auch sehr stark die Idee des „Kampfes“ steckt – aber Ton, Umgang und auch manche „Inhalte“ haben meine gefühlten Grenzen doch sehr stark überschritten. Natürlich heißt das nicht, daß Trump ein schlechter Präsident werden muß. Viel schlimmer finde ich eigentlich die gedanklichen und tatsächlichen Auswirkungen, die dieser Wahlkampf und der Wahlgewinn in gesellschaftlich und politisch in Deutschland, in anderen europäischen Ländern und auch allgemein in Europa haben kann.

In dieser Stimmung habe ich heute ein sehr gutes und auch sehr ausführliches Twittergespräch mit Peter Jakobs geführt. Ein Gespräch für das ich sehr dankbar bin, weil es auch um die Möglichkeiten und Grenzen von (positiver) Veränderung ging. Zu diesem Thema paßten dann auch die Tweets von Sabria David hier und hier.

Ja, ich glaube, daß das tatsächlich der richtige Weg ist. Wir sollten gemeinsam überlegen, wie wir unsere Gesellschaft und unsere Demokratie in Deutschland und Europa gestalten. Welche Ideen haben wir? Welche Fragen stellen wir uns? Was wollen wir ausprobieren? Und irgendwie fehlt mir dazu noch der richtig gute Hashtag – zukunftsgewandt, zu Aktivitäten einladend, offen …..

Welcher Hashtag würde Euch ansprechen und bewegen?

Schwarzer Tag!

Der heutige Tag ist ein „schwarzer Tag“, denn der Bundestag hat leider ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung beschlossen. Ja, das Gesetz heißt jetzt anders – nämlich „Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten“ – aber der Begriff ändert nichts am Inhalt.

404 Abgeordnete des Bundestages haben zugestimmt – eine denkwürdige Zahl, wenn man bedenkt, daß fehlerhafte Links so angezeigt werden und wir die 404-Seiten aus dem Internet gut kennen.

Was mich persönlich bedrückt sind die Grundannahmen, die hinter diesem Gesetz stehen.

Datenschutz ist Täterschutz
Bisher ging ich aufgrund der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts davon aus, daß Datenschutz ein aus Art. 2 in Verbindung mit Art. 1 Grundgesetz abgeleitetes Grundrecht ist. Ein Grundrecht, daß allen Menschen zusteht. Ja, wir können über die Frage diskutieren, was konkret unter Datenschutz fällt, wie wir den Bereich Datenschutz grundsätzlich – auch im Hinblick auf die Nutzung von Internetdiensten – gestalten wollen und wie/wodurch Datenschutz auch eingeschränkt werden kann. Aber: aus jedem Menschen, der sich auf ein Recht beruft, einen Täter zu machen, ist für mich weder nachvollziehbar noch akzeptabel. Insofern empfinde ich die Äußerung, daß Datenschutz Täterschutz ist als Angriff und als Unterstellung.

Menschenbild?
Ich frage mich mittlerweile ganz ehrlich, von welchem Menschenbild die Bundesregierung ausgeht. Ist ein Menschenbild, in dem jeder Mensch als (potentieller) Täter angesehen wird, noch ein Menschenbild, das die Würde des Menschen respektiert? Gerade die Frage nach dem Menschenbild ist wichtiger als es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn der „umfassende Zugriff“ auf den Menschen ist gerade kein Wesensmerkmal einer Demokratie, sondern von totalitären Staaten. Demokratien brauchen kritische Diskussionen – diese sind aber nur möglich, wenn die Menschen sich nicht überwacht fühlen. Überwachung führt insofern zu einer Schwächung der Demokratie.

Die Vertrauensfrage
Die erneute Einführung der Vorratsdatenspeicherung ist ein deutliches Zeichen des Mißtrauens des Staates gegenüber den Bürgern. Aber: warum sollten die Bürger dem Staat noch vertrauen? Die Aufrüstung des Staates zur ständigen Kontrolle der Bürger macht ein gegenseitiges Vertrauen unmöglich.

Vertrauen basiert auf mehreren Faktoren. Ausgehend von dem Buch „Erfolgsfaktor Vertrauen“ (bei dem es um eine Vertrauenskultur in Unternehmen geht) möchte ich folgende Aspekte betonen, die für Vertrauen wesentlich sind:

– Respekt vor anderen
– Ehrlichkeit
– Fairness
– Verantwortung für das eigene Verhalten
– Mitgefühl
– hohe Transparenz (als Zeichen von Anstand)
– Wahrnehmung der Bedürfnisse anderer
– Anerkennung und Akzeptanz von Gleichheit und Würde der Menschen

Konkret angewendet?
Wenn die Abgeordneten der Regierungsparteien mich als (potentielle) Täterin ansehen – und das tun sie siehe oben „Datenschutz ist Täterschutz“ – dann bedeutet die Anerkennung und Akzeptanz von Gleichheit und Würde, daß auch die Abgeordneten in gleichem Maße wie ich potentielle Täterinnen und Täter sind. Wir haben dann ein Menschenbild, das davon ausgeht, daß der Mensch von Grund auf böse ist und seine Handlungen kontrolliert werden müssen, damit er anderen nicht schadet. Das ist nach meinem Empfinden eine völlige Abkehr von der Idee der Menschenwürde.

Hohe Transparenz vermisse ich in vielen Themen – TTIP und NSA-Überwachung mögen als Beispiele an dieser Stelle reichen. Auch fehlt bis heute eine nachvollziehbare Erläuterung zur Notwendigkeit und Angemessenheit der Vorratsdatenspeicherung. Warum sollte ich jemandem vertrauen, der mir Dinge verheimlicht?

Ehrlichkeit und Fairneß? Reden wir über die wirklichen Gründe, warum #VDS eingeführt wird? Ich glaube nicht. Aber schlimmer noch finde ich, daß mit dem neu eingeführten Tatbestand der „Datenhehlerei“ auch der investigative Journalismus „beerdigt“ wird. Müssen Politiker dann nicht mehr ehrlich sein und keine Verantwortung für Ihr Verhalten mehr tragen, da es ja niemand mehr herausfinden und veröffentlichen darf?

Respekt, Mitgefühl und Wahrnehmung der Bedürfnisse anderer Menschen? Ich höre immer „wir haben ja nichts zu verbergen“. Ja, eben! Gerade weil wir nichts zu verbergen haben, gibt es keinen einzigen Grund, unsere Daten anlaßlos zu speichern. Warum müssen staatliche Behörden herausfinden können, wann ich mit wem telefoniert habe, insbesondere wann jemand einen Arzt, einen Psychotherapeuten, einen Journalisten oder einen Anwalt (Reihenfolge beliebig!) kontaktiert hat? Außerdem: wie stellen die staatlichen Stellen sicher, daß gespeicherte Daten nicht gehackt/mißbraucht werden können? Jede zusätzliche Datensammlung stellt einen großen Schatz für „böse Menschen“ dar ……

Fazit
Der Staat vertraut mir und uns allen ganz offensichtlich nicht, er hält unsere ständige Kontrolle für notwendig – denn wir könnten ja irgendetwas machen, was dem Staat „mißfällt“. Ja, lieber Staat – auch Du kannst ständig etwas machen, das mir mißfällt. Warum bitte sollte ich Dir vertrauen?

Falsche Frage …….

Es ist immer wieder erstaunlich, wieviel Einfluß die Formulierung einer Frage auf den Inhalt und den Verlauf eines Gesprächs/einer Diskussion haben kann. Gute Fragen können „wie Küsse schmecken“ (so auch der Titel eines sehr spannenden Buches von Carmen Kindl-Beifuß) und damit gute und spannende Gespräche eröffnen, weniger gute Fragen verbauen den Weg zum Gespräch, setzen den Befragten manchmal sogar unter Druck oder stellen ihn bloß (anschaulich geschildert im Buch „Warum? Von der Obszönität des Fragens“ von Aron Ronald Bodenheimer).

Warum ich dieses Thema jetzt aufgreife? Sonntag vor einer Woche entspann sich auf Twitter eine Diskussion rund um das Thema Live-Streaming von Sessions auf Barcamps. Die Frage, die – zunächst unausgesprochen – im Raum stand, war „Live-Streaming bei Barcamps – pro oder contra?“ Eine offene Frage, die völlig unterschiedliche Sichtweisen und Aspekte im Rahmen des Gesprächs zuließ. So haben wir im Verlauf des Sonntags unter anderem über die Vor- und Nachteile für Sessiongeber, Teilnehmer, abwesende Interessierte, Orga-Teams und Sponsoren gesprochen. Die „Streaming-Kompatiblität“ unterschiedlicher Inhalte war ebenso Thema wie die Frage der Sponsorengewinnung und damit der Finanzierung von Barcamps. Die 140-Zeichen-Begrenzung bei Twitter war für uns alle immer wieder eine Herausforderung – es ist gar nicht so einfach, komplexe Inhalte in kurzen Tweets halbwegs verständlich darzustellen. So war es nicht verwunderlich, daß wir auf die Idee kamen Blogbeiträge zu „Livestreaming bei Barcamps – pro oder contra?“ zu schreiben. Der „pro-Beitrag“ erschien im Stream-Café, mein „contra-Beitrag“ in diesem Blog, weitere Beiträge werden vielleicht noch folgen.

Gerade weil die Diskussion zu dem Thema sehr spannend war, fand ich die Idee, das Gespräch in einem Hangout fortzusetzen zunächst gut. Dabei bin ich aber davon ausgegangen, daß auch dem Gespräch im Hangout dieselbe offene Fragestellung „Livestreaming bei Barcamps – pro oder contra?“ zugrundeliegt. Eine Fehlannahme! Aus der offenen Ursprungsfrage ist nämlich „Geschützte Räume, Autorisierungen, Regeln: Wie offen sollen Barcamps sein?“ geworden. Das mag aus Sicht der Streaming-Befürworter eine wichtige Frage sein, mit der offenen Ursprungsfrage hat diese Frage aber nichts mehr zu tun. Vielmehr steckt in der Frage schon die wertende Grundannahme und „Unterstellung“, daß ein Barcamp ohne Streaming gerade nicht offen ist. Das sehe ich anders und dazu werde ich sicherlich irgendwann auch etwas schreiben.

Wesentlich ist für mich aber folgender Punkt: es macht für mich keinen Sinn, eine derartig einseitig formulierte Frage in einem Hangout zu diskutieren. Die Fragestellung lädt gerade nicht dazu ein, unterschiedliche Aspekte zu beleuchten und zu hinterfragen, es ist auch keine Weiterführung der ergebnisoffenen Diskussion, denn die Frage beinhaltet das (gewollte) Ergebnis ja schon. Schade, denn so hat die Diskussion ihren Charme völlig verloren!

Livestreaming bei Barcamps?

Das zufällige und eher flüchtige Scrollen meiner Twittertimeline am späten Sonntagvormittag führte mich heute mitten in eine spannende Diskussion rund um das Thema „Livestreaming“. Das Barcamp Rhein-Main wird – wie auch schon in den vergangenen Jahren – zum Teil live gestreamt und zwar jeweils eine Session von insgesamt wohl sechs gleichzeitig stattfindenden Sessions. Auf den ersten Blick eine gute Idee, auf den zweiten Blick …..? Und so sprach mir eine skeptische Antwort auf eine eher enthusiastische Ankündigung aus der Seele und führte mich dazu, mitzudiskutieren.

Auf den ersten Blick …..
…. ist es natürlich toll, wenn man auch aus der Ferne spannende Sessions bei einem Barcamp mitverfolgen kann. Das habe ich – gerade beim Barcamp Rhein-Main – sogar schon einmal gemacht. 2013 konnte ich nicht persönlich teilnehmen, über das Livestreaming konnte ich die Session von Thomas Zimmerling zum „Social Storm“ verfolgen. Diese wirklich gute Session ist auch nach wie vor online. Also eigentlich alles ganz wunderbar, oder? Nein, denn …..

Auf den zweiten Blick ….
…. spüre ich ein „gewisses Unbehagen“. Es ist eine Sache, daß ich als (ferne) Nutzerin davon profitiere, Veranstaltungen aus der Ferne live zu verfolgen. Als Anwesende vor Ort stellt sich die Situation für mich anders dar. Viele der richtig guten Barcamp-Sessions leben davon, daß eine offene Diskussion mit (zum Teil auch sehr persönlichen) Erfahrungen der einzelnen Teilnehmer stattfindet. Kann da, wo eine Kamera alles aufzeichnet, live streamt und dauerhaft bewahrt, eine solche offene Diskussion noch möglich sein? Reicht es aus, daß die Teilnehmer wissen, daß die Session gestreamt/aufgezeichnet wird? Oder beeinflußt dieses Wissen die Entscheidung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen, ob sie die Session besuchen und ob sie wirklich mitdiskutieren? Was geht uns möglicherweise vor Ort verloren, weil wir Gesprächsräume „unkontrolliert“ nach außen öffnen?

Vor Ort gibt es natürlich unterschiedliche Perspektiven und Interessen. Es gibt die Perspektive der Veranstalter, die natürlich – immer wieder – das Finanzierungsproblem haben. Führt Livestreaming (beziehungsweise die damit verbundene „Reichweite“) tatsächlich zu höheren Sponsoringeinnahmen?
Dann gibt es noch die Perspektive der Sessiongeber. Für einige mag Livestreaming durchaus ein (Selbst-) Marketingvorteil sein, für andere paßt es vielleicht nicht zum geplanten Inhalt.
Schließlich gibt es noch die Perspektive der Sessionteilnehmer – inwieweit beeinflußt Streaming deren Bereitschaft, aktiv (also mit Fragen und Äußerungen) an einer Session teilzunehmen?

Meine eigene Perspektive
Aus eigener Erfahrung kenne ich die Perspektiven als (aktive und passive) Sessionteilnehmerin und als Sessiongeberin. Als Sessionteilnehmerin weiß ich „vorher“ natürlich nicht, ob beziehungsweise wie ich mich inhaltlich beteiligen werde. Oft besuche ich Sessions, deren Thema ich spannend finde – gerade weil ich mich mit einem Thema noch gar nicht oder nur wenig beschäftigt habe. Je weniger ich über ein Thema weiß, desto schwieriger ist natürlich eine aktive Diskussionsteilnahme im Rahmen der Session, trotzdem besteht natürlich die Möglichkeit Fragen zu stellen – zum Beispiel zu benutzten Begriffen oder Hinweisen zur Vertiefung. In der Regel twittere ich aus den von mir besuchten Sessions – mich ansprechende Inhalte der Sessions, Fragen der anderen Teilnehmer, die das Thema für mich vertiefen oder andere Aspekte aufwerfen, Fragen und Verbindungen zu anderen Themen, dir mir plötzlich einfallen – oft entsteht so ein Gespräch mit fernen (und mir zum Teil sogar unbekannten) Twitternutzern.

Als Sessiongeberin nutze ich Barcamps gelegentlich, um neue Themen und/oder neue Methoden auszuprobieren. Das Gespräch – der offene Austausch – steht für mich bei meinen Sessions im Vordergrund. Es muß allen Teilnehmern möglich sein, (vermeintlich „dumme“) Fragen zu stellen, eigene Erfahrungen zu berichten und von den den Fragen und Anmerkungen der anderen zu lernen. Dafür brauche ich eine Art geschützten Raum. Es geht nicht darum, daß niemand über die Session berichtet, sondern eher darum, daß für eine kurze Zeit die gemeinsame Arbeit an einem Thema/das gemeinsame Nachdenken über eine Frage im Vordergrund steht. Livestreaming würde diese „Illusion“ des geschützten Raums zerstören und mit der Dauerhaftigkeit des Abrufs durch den gespeicherten Stream gerade auch die Leichtigkeit und Flüchtigkeit der Gespräche stören.

Mehr Flüchtigkeit!
Bei „Flüchtigkeit“ denkt man natürlich schnell an fehlende Aufmerksamkeit, an „Flüchtigkeitsfehler“. Der Duden führt als Synonyme für „Flüchtigkeit“ jedoch auch Kurzlebigkeit und Vergänglichkeit an. Nicht alles, was speicherbar ist, muß auch gespeichert werden. Für mich besteht der wesentliche Teil eines „guten“ Barcamps aus Gesprächen – aus den Gesprächen in den Sessions, aus den Gesprächen in den Pausen und am Abend und aus den Gesprächen über Twitter. Diese Gespräche „speichere“ ich in meinem Kopf und meinem Herzen, ich brauche für diese Gespräche keinen externen technischen Speicher, weil diese Gespräche in ihrer Einzigartigkeit aus der jeweiligen Situation flüchtig entstehen – eine zufällige Begegnung an der Kaffeemaschine, ein Stichwort auf dem Flur, eine Frage in der Session. Livestreaming und Aufzeichnung nehmen den Gesprächen diese Leichtigkeit und Flüchtigkeit, die auch das Ausprobieren provozierender Thesen und „brisanter“ Äußerungen erlaubt, die gut zur Atmosphäre vor Ort passen, aber von fernen „Zuschauern“ gar nicht nachvollzogen werden können und ihren Kontext verlieren.

Mein Fazit
Ich möchte das Livestreaming keinesfalls „verteufeln“, ich persönlich glaube aber nicht, daß es für ein Barcamp „gut“ ist. Meine Diskussionsfreude ist bei gestreamten Sessions deutlich gedämpft, ich selber möchte meine Sessions auch nicht zum Livestreaming anbieten, weil mir der echte offene Austausch wichtiger ist als die mögliche Reichweite.

Vermutlich habe ich jetzt viele wichtige Aspekte ausgelassen, aber es wird sicherlich noch andere Beiträge zu diesem Thema geben.

Herzlichen Dank jedenfalls für die spannende Twitterdiskussion an Sascha Hüsing, Sebastian Greiner (der hinter @LivestreamFfm steckt) und Jan Theofel.

Die Sache mit der Kundenzufriedenheit ….

Schon seit vielen Jahren nutze ich Bus und Bahn sehr intensiv, wenn ich irgendwo hin möchte. Man kann durchaus sagen, daß ich eine überzeugte Nutzerin bin – nein, man muß jetzt leider sagen war. Denn in den letzten Jahren machen es mir die Wuppertaler Stadtwerke und auch der VRR zunehmend schwer, eine begeisterte und zufriedene Kundin zu sein.

Nahverkehr ist natürlich immer ein schwieriges und komplexes Thema. Es kann – bedingt durch Unfälle oder auch Unwetter (Pfingstmontag zum Beispiel) schnell zu Verspätungen und Ausfällen kommen. Bis zum Sommer 2012 habe ich solche Verspätungen und Ausfälle als unglückliche Ausnahmen erlebt, über die ich – nach kurzem Grummeln – schnell hinwegsehen konnte, denn in der Regel war aus meiner Sicht „alles in Ordnung“. Aber seit Sommer 2012 ist das anders. Mein grundsätzliches Vertrauen in den regionalen Dienstleister hat gelitten. Zunächst waren da im August und September viele völlig ungeplante Busausfälle, die meine Zeitplanung völlig durcheinander gebracht haben. Den Seitenhieb auf den lokalen Anbieter WSW = wird sicher wegfallen konnte ich mir damals nicht verkneifen. Dann kam sehr schnell eine erhebliche Kürzung des Busangebots, die für mich zu einer deutlichen Verlängerung der Fahrzeiten – vor allem bei anschließender Zugnutzung – führte. Einen Dialog zu den Änderungen gab es – entgegen anderslautender Ankündigungen – nicht. Ab Mitte Juli wird es zusätzlich schwierig – denn aufgrund einer Großbaustelle rund um den Hauptbahnhof, sind erhebliche Änderungen und Einschränkungen (unter anderem längere Wege) notwendig. Bis vor wenigen Tagen hätte ich mich dazu nicht geäußert, denn ich habe dafür durchaus Verständnis.

Aber: am Dienstag las ich, daß die Fahrpreise in Wuppertal deutlich steigen werden. Wir sollen – zusammen mit Düsseldorf und Dortmund – in die Premium-Preis-Klasse A3 des VRR „aufsteigen“. Ich soll also einen Premium-Preis für ein deutlich beschränktes Angebot zahlen, bei dem ich zeitlich seit 2 Jahren einen erheblichen Mehraufwand habe?

Ich bin nicht mehr begeistert und zufrieden und natürlich möchte ich nicht mehr schweigen. Denn statt der versprochenen Abolust habe ich mittlerweile nur noch Abofrust. Statt irgendwelchen Extras und Vergünstigungen möchte ich endlich wieder ein attraktives Nahverkehrsangebot und ich möchte sehen, daß sich die Unternehmen um die Kunden ehrlich bemühen. Ein weiter Weg – sowohl für den VRR als auch für die WSW.

Wir sind das überwachte Volk!

Es gibt Momente, in denen mir Geschichte greifbarer und näher erscheint, als zu anderen Zeiten. Heute (17. Juni 2014) ist für mich so ein Tag. Es ist aber auch ein Tag, der mich nachdenklich macht. In Gedanken schlage ich einen Bogen von Mai 1949 über Juni 1953, Sommer und Herbst 1989 bis zum heutigen Tag.

Mai 1949: das Grundgesetz wird verkündet
Vor etwas mehr als 65 Jahren – am 23. Mai 1949 – wurde das Grundgesetz verkündet, am 24. Mai 1949 trat es in Kraft. In relativ kurzer Zeit erarbeitete der Parlamentarische Rat damals den Text und traf damit grundlegende Entscheidungen für Westdeutschland. Die Geschichte der Entstehung des Grundgesetzes kann man hier gut nachlesen. Dabei sind drei Aspekte für mich besonders interessant:
– Teil des Auftrags, den die Westallierten erteilten, war es, eine Verfassung auszuarbeiten, die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten erhält (Seite 4 des oben verlinkten Dokumentes „Blickpunkt Bundestag Spezial/Seite 6 des pdf)
– über die Bedeutung und Notwendigkeit der 19 Grundrechte, die am Anfang des Grundgesetzes stehen, waren sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rates ziemlich schnell einig (Seite 15 des oben verlinkten Dokumentes „Blickpunkt Bundestag Spezial/Seite 17 des pdf)
– die Arbeit des Parlamentarischen Rates stieß in der Öffentlichkeit auf wenig Interesse (Seite 17 des oben verlinkten Dokumentes „Blickpunkt Bundestag Spezial/Seite 19 des pdf)

Besonders bemerkenswert finde ich den sprachlich-diplomatischen Coup, das Arbeitsergebnis nicht Verfassung sondern „Grundgesetz“ zu nennen. Mit dieser Bezeichnung konnte es „losgehen“.

Juni 1953: der Volksaufstand in der DDR
1953: Nur wenige Jahre nach der Verkündung des Grundgesetzes ging es den Westdeutschen schon richtig gut. In Ostdeutschland schöpften die Menschen nach Stalins Tod Hoffnung. Doch ihre Hoffnungen erfüllten sich nicht. Am 17. Juni kam es zum Volksaufstand in der DDR statt. Die Forderungen der Menschen nach besseren Arbeitsbedingungen, Rücktritt der Regierung und freien Wahlen wurden blutig niedergeschlagen.

Auch in Westdeutschland hinterließ der Volksaufstand Spuren. Der Aufstand im Osten stieß in Westdeutschland auf breite Sympathie. Schon am 17. Juni gab es eine Solidaritätskundgebung in West-Berlin und in den folgenden Tagen auch in anderen westdeutschen Städten. Der Tag wurde zu einem nationalen Gedenktag und schließlich zu einem Feiertag – dem Tag der deutschen Einheit.

Der Feiertag am 17. Juni erinnerte immer wieder an den 17. Juni 1953, in Fernseh- und Zeitungsberichten bekamen auch die später Geborenen einen kleinen Einblick in das, was rund um diesen Tag in Ostdeutschland passierte und mit wieviel Mut und Hoffnung die Menschen auf die Straße gingen – auch wenn sich diese Hoffnungen damals nicht erfüllten.

1989: Wir sind das Volk
Erst vor ein paar Tagen wurde mir bewußt, daß es jetzt 25 Jahre her ist, daß die Mauer gefallen ist. Ich erinnere mich an Nachrichtenbilder mit Menschen in der überfüllten Prager Botschaft und an die Freude der Menschen, als der damalige Außenminister Genscher ihnen die Nachricht der Ausreise überbrachte. Vor allem aber erinnere ich mich an den so einfachen aber machtvollen Satz „Wir sind das Volk“. Es ist für mich immer noch unglaublich, wie schnell und friedlich die Mauer fiel. Das, was 1953 blutig endete, konnte 1989 friedlich und freudig erreicht werden. Ein Start in eine verheißungsvolle Zukunft für Ost- und Westdeutschland?

2014: Wir sind das überwachte Volk
Der rote Faden, der 1949, 1953 und 1989 verbindet, ist der Wunsch der Menschen nach guten Lebensbedingungen, Freiheit, Grundrechten und freien Wahlen. Gute Lebensbedingungen haben viele von uns sicher erreicht, wobei dies nicht heißt, daß es allen Menschen in Deutschland gut geht. Aber was ist mit unserer Freiheit und unseren Grundrechten? Seit letztem Jahr wissen wir, daß wir dauerhaft und grundlos überwacht werden. Egal ob wir soziale Netzwerke nutzen, im Internet surfen, telefonieren (oder demnächst auch Auto fahren), wir werden überwacht und das, ohne daß gegen uns ein Verdacht vorliegt. Aus dem kraftvollen Ruf „Wir sind das Volk“ ist die traurige Erkenntnis geworden „wir sind das überwachte Volk“. Aber: wollen wir das so stehenlassen?

Wollen wir das so stehenlassen?
Ja und nein.

Ja, denn wir sind im Moment das überwachte Volk. Die im Grundgesetz verankerten Grundrechte und die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Unschuldsvermutung bestehen zwar noch „auf dem Papier“, tatsächlich sind sie im Rahmen der vielfältigen Überwachungsaktivitäten blaß und inhaltsleer geworden. Die Trumpfkarte lautet immer wieder „Sicherheit“.

Nein, denn ich möchte das nicht so stehenlassen. Ich suche nach dem positiven Satz, der – wie damals 1989 – eine Wende in den Köpfen und Herzen der Menschen herbeiführt und sie gemeinsam für eine gute Zukunft arbeiten läßt.

Was wäre Ihr/Dein Satz für uns und unsere gemeinsame Zukunft?

Kennen Sie TINA?

TINA geistert bereits seit geraumer Zeit durch Deutschland und vor allem durch die deutsche Politik. Und je mehr sich Menschen (egal ob Politiker/Politikerinnen oder nicht) auf TINA berufen, desto mehr Zweifel kommen mir. Halt – Sie wissen noch nicht, wovon ich spreche? TINA – die Abkürzung für „There Is No Alternative“ – in der deutschen Sprache beliebt als „es gibt keine Alternative“ oder „alternativlos“.  Der Ausdruck der „Alternativlosigkeit“ – auch als TINA-Prinzip bezeichnet – kennzeichnet ein irritierendes Weltbild, nämlich eine Welt in der es jeweils nur einen einzigen möglichen Weg gibt.

Aber ist das wirklich so? Gibt es wirklich in der heutigen Welt so viele Situationen, die nur einen Weg zulassen? Das ist die Frage, die mich schon seit einiger Zeit immer wieder beschäftigt und beim Nachdenken fielen mir relativ schnell folgende „Begriffspaare“ ein, die eine Auswahl gerade beinhalten:

Sein oder Nichtsein
offen oder zu
Kaffee oder Tee?
bleiben oder gehen
rauchen oder nicht rauchen
Alles oder nichts
Kopf oder Zahl
schwarz oder weiß
alt oder jung
arm oder reich
ja oder nein
wahr oder falsch?
reden oder schweigen
Gewinner oder Verlierer?

In all diesen Beispielen haben wir die Wahl – ja oder nein zu sagen, zu gehen oder zu bleiben, zu schweigen oder zu reden. Jede Entscheidung hat (natürlich) ihre Konsequenzen. Und manche dieser Konsequenzen werden wir lieber tragen als andere, manche Konsequenzen werden wir lieber vermeiden wollen. Aber in vielen Bereichen haben wir auch Spielraum – erst einen Kaffee, dann einen Tee, noch etwas bleiben und dann gehen, eine faire Lösung für alle Beteiligten vereinbaren (win-win). Warum tritt TINA also so oft „auf den Plan“? Der Begriff „alternativlos“ hinterläßt bei mir das unangenehme Gefühl, daß es überhaupt keine Alternative gibt (geben soll?) und dementsprechend auch keine Diskussion über das Thema notwendig ist und entsprechend werden zur Zeit auch Diskussionen zu manchen Themen (die ich wichtig finde) einfach „beendet“.
Erfreulicherweise wurde der Begriff „alternativlos“ – mit einer aus meiner Sicht ausgezeichneten Begründung – zum Unwort des Jahres 2010 gewählt. Eine „gute“ Wahl – aber wer erinnert sich wirklich noch daran? Vor allem: wer von uns stellt die angebliche „Alternativlosigkeit“ in Frage?

Zugegeben viele Entscheidungen, die wir heute treffen müssen, sind nicht so „banal“ wie die Frage „Kaffee oder Tee“. Und nein, ich beneide niemanden, der zur Zeit schwierige politische oder wirtschaftliche Entscheidungen treffen muß. Das ist eine große Verantwortung – und es gibt zwei Aspekte, die mir in diesem Zusammenhang wichtig sind:

1. Verantwortung: Schmid und Messmer haben in einem Beitrag hervorragend ausgearbeitet, daß Verantwortung in einer Funktion vor allem heißt, Antworten zu geben. Dazu gehört es, antworten zu wollen und zu können (persönliche Ebene) und auch antworten zu dürfen und zu müssen (Ebene der Organisation). Mir fehlen derzeit die Antworten zu ganz vielen Themen und das ist traurig, denn so habe ich nicht das Gefühl, daß die Entscheider ihre Verantwortung mir gegenüber wirklich wahrnehmen. Sätze mit denen Diskussionen als „beendet“ erklärt werden lassen mich traurig und ratlos zurück. Warum soll ich Menschen wichtige Aufgaben anvertrauen, wenn sie mir auf meine wichtigen Fragen, keine Antworten geben? Dabei geht es mir nicht nur um „inhaltliche“ Antworten – auch das Eingestehen noch keine eigenen Antworten zu haben ist für mich eine Antwort, mit der ich etwas anfangen kann.

2.“weiter so“: Beständigkeit ist in vielen Situationen eine sehr gute Sache. Aber – wie Cialdini in seinem Buch „Influence – The Psychology of Persuasion“ ausführt – hindert sie uns auch daran, Dinge in Frage zu stellen und „auszusteigen“ bzw. „nein“ zu sagen, wenn wir uns einmal verpflichtet haben. Das „Nein“ oder der „Ausstieg“ erscheinen uns dann oft eben nicht mehr als Alternative. Aber „alternativlos“ sind solche Situationen nicht. Zusätzlich zu den fehlenden Antworten fehlt mir hier bei vielen Themen die Bereitschaft, alle möglichen Alternativen zu durchdenken und dann eine Entscheidung zu treffen.

Zurück zu TINA: Nein, ich finde nicht, daß es so viele „alternativlose“ Situationen gibt (wenn überhaupt). TINA ist allerdings bequem, wenn man keine Diskussionen führen möchte, wenn man nicht begründen möchte, warum man an einer Entscheidung festhalten möchte („consistency“) – es ist das „Basta“ der Entscheider gegenüber den Bürgern und es fühlt sich genauso schlecht an, wie das „basta“ oder „darum“ von Erwachsenen gegenüber Kindern. Dabei schleicht sich dann die Frage ein: ist das das Bild, das Menschen in der Politik von anderen Menschen – insbesondere von Bürgern (also von potentiellen Wählern) – haben?

Kein wirklich schönes Bild ….. Aber: glücklicherweise verbleibt uns zumindest – wie Viktor Frankl es so treffend formuliert hat – eine Entscheidung: wir treffen die Wahl, welche Haltung wir einnehmen!