Eine Frage der Perspektive…..

Eigentlich, ja eigentlich sollte ich heute etwas anderes machen. Den Kurs für die Medienfachwirte vorbereiten, Anfragen von Mandanten beantworten…. Aber: irgendwie hat mir das Schicksal – in diesem Fall in Form eines Twittergesprächs – ein Thema vor die Füße geworfen, daß ich nicht liegenlassen möchte. Daher gibt es hier – endlich mal wieder – einen Blogbeitrag.

Heute morgen las ich folgenden Tweettext: „Die Fähigkeit, die Perspektive eines anderen Menschen einnehmen zu können, bedeutet nicht die Negierung der eigenen Perspektive sondern es bedeutet die Fähigkeit, die Perspektive eines anderen Menschen einnehmen zu können, um damit eine größere, eigene Perspektive zu erlangen.“ Ich habe erst einmal in Ruhe über diesen Satz nachgedacht. Dann habe ich genickt und den Satz retweetet. Kurz danach las ich (völlig unabhängig von meinem Retweet) eine Antwort auf diesen Tweet: „Wobei offen bleibt, welche Perspektive eingenommen wird, wenn man meint, die Perspektive eines anderen Menschen einzunehmen. Könnte es nicht auch sein, dass damit wieder nur die eigene Perspektive – nun als Projektion einer vermeintlich anderen Perspektive – eingenommen wird?“ Hmm, ja – schon irgendwie. Aber greift das nicht zu kurz? Führt nicht auch der Versuch, eine andere Perspektive einzunehmen zu Veränderung oder zu mehr Verständnis? Ich antwortete und ein spannendes Twittergespräch entspann sich. Danke an @SKunzke und @DanielHornuff für die Anregung zu diesem Thema und dieses Gespräch (witzigerweise an einem Tag, an dem ich vorher einen Tweet zum Thema „fehlende Twittergespräche“ beantwortet und kurz etwas zum Thema „Mediation“ geschrieben habe – beides hängt interessanterweise eng zusammen).

Die eigene Perspektive
Wir alle haben – ob bewußt oder unbewußt – unsere Sicht auf die Dinge, unseren Standpunkt. Ganz einfach betrachtet: wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich meinen Garten. Auch die Nachbarn rechts und links von mir können meinen Garten sehen, aber ihr Blickwinkel auf meinen Garten ist anders. Einmal, weil sie tatsächlich andere Dinge sehen können (ich kann zum Beispiel die Himbeeren nicht sehen, weil die hinter einem ziemlich großen Strauch stehen, von der Seite kann man die sehen), zum anderen weil sie andere Dinge mögen (andere Pflanzen/Blumen, weniger Unkraut, keine wild wachsende Wiese). Ich mag meinen Garten (auch wenn ich tatsächlich mal etwas Gartenarbeit machen sollte), aber ich vermute – sicher nicht zu Unrecht – daß meine Nachbarn meine Ansicht nicht teilen.

Wo immer wir uns körperlich befinden, nehmen wir unsere Umgebung wahr. Wir sehen, hören oder riechen etwas. Und irgendwie denken wir ziemlich oft, daß andere Menschen in diesem Moment genau dasselbe hören, sehen oder riechen. Das kann so sein, aber Mißverständnisse entstehen oft dann, wenn wir das voraussetzen. Ich weiß noch, daß ich vor einigen Jahren (kurz nach Beginn der Mediationsausbildung) mit meiner Mutter im Siebengebirge wandern war. Wir waren in einem Wald. Meine Mutter schaute sich um und sagte „Schöner Baum.“ Wir waren in einem Wald. Es gab nicht nur einen Baum, sondern zig Bäume. Was tun? Nicken und bestätigen oder nachfragen? Normalerweise hätte ich einfach „ja“ gesagt, denn es gab dort wirklich schöne Bäume. Aber die Mediationsausbildung provozierte mich in diesem Moment zur Nachfrage „Welchen Baum meinst Du?“ Meine Mutter fand die Nachfrage nicht wirklich gut, wir haben das Thema nicht weiter verfolgt, aber diese kleine Szene ist mir doch in Erinnerung geblieben.
Andererseits ist es manchmal schwierig, beim eigenen Standpunkt zu bleiben, wenn andere Menschen einen fragend oder ablehnend anschauen oder sich sogar deutlich dagegen aussprechen. Vor vielen Jahren wanderte ich Ende April mit meiner Mutter in der Nähe von Eisenach. Wir gingen einen Waldweg an einem Flüßchen hinunter und ich nahm die ganze Zeit einen immer stärker werdenden Bärlauchduft wahr. Irgendwann sagte ich „es duftet nach Bärlauch“. Aber da war kein Bärlauch zu sehen und meine Mutter hielt das für eine Verirrung meiner Nase. Trotzdem. Ich bestand darauf. Einige Wegbiegungen später sahen wir auf der anderen Seite des Flüßchens ein richtig großes Bärlauchvorkommen.

Die eigene Perspektive ist aber nicht auf diese unmittelbar körperliche Wahrnehmung begrenzt. Wenn ich etwas lese – einen Tweet zum Beispiel, einen Blogbeitrag, einen Zeitungsartikel oder ein Buch – dann mache ich mir auch darüber Gedanken. Ich stimme zu (wie im Fall des oben geschilderten Retweets) oder ich lehne den Gedanken oder die Wortwahl ab. Manchmal äußere ich mich dann, manchmal (eigentlich meistens) nicht. Aber irgendwie habe ich immer eine Art von „Erklärung“, warum etwas für mich nicht paßt, sich für mich „falsch anhört“. Es ist nicht immer eine logische oder irgendwie begründete „Erklärung“, manchmal ist es einfach das Gefühl „das ist falsch“ oder „das paßt für mich nicht“. Und wenn es falsch ist, dann darf ich das ja auch so sagen/schreiben. Oder etwa nicht?

Was, wenn es anders wäre….?
Das was ich fühle, denke, wahrnehme ist für mich selbst erst einmal richtig. Es ist meine subjektive Wahrheit. Aber: wenn es für mich wahr ist, wie kann es dann für andere Menschen falsch sein? Liegen diese Menschen dann nicht falsch? Und ist es dann nicht hilfreich und wichtig, daß ich Ihnen die Wahrheit mitteile?

Ja, wenn es so einfach wäre….. Denn oft gibt es viele „Wahrheiten“ – also Sichtweisen, die nicht falsch sind, die sogar gleichzeitig richtig und zutreffend sind. Eben eine Frage der Perspektive! Es war der Vorteil der Mediationsausbildung, daß ich mich mit diesem Thema tiefer beschäftigen konnte und durfte.

Kennt Ihr „Vexierbilder“? Also diese Bilder, die gleichzeitig unterschiedliche Bilder enthalten? Ich habe hier einmal ein Beispiel verlinkt – was seht Ihr auf diesem Bild? Oder hier? Es ist gleichzeitig faszinierend und verwirrend, daß wir unterschiedliche Dinge sehen können und doch gleichzeitig mit unserer Wahrnehmung dessen, was wir sehen, recht haben. „Wahrheit“ ist bei diesen Bildern eben nicht auf eine einzige Art der Wahrnehmung beschränkt. Es gibt kein „nur das ist richtig“. Was aber, wenn wir nicht alles „sehen“, was wir sehen könnten?

David Foster Wallace hat in seinem – ursprünglich als Rede verfaßten – Text „This is water“ gute Beispiele gebracht, warum wir durch die Fokussierung auf uns selbst – also auf uns selbst als Mittelpunkt der Welt – sehr viel gar nicht sehen und wahrnehmen können. Wenn ich in einem vollen Supermarkt an der Kasse warte, dann kann ich mich darüber ärgern, daß so viele Menschen auch gerade einkaufen wollen. Oder ich kann darüber nachdenken, ob diese Menschen auch gerade genau dasselbe denken, ob sie vielleicht noch viel weniger als ich zu einem anderen Zeitpunkt einkaufen gehen können. In dem Moment, wo ich den Gedanken zulasse, daß die Welt sich nicht nur um mich dreht (schade eigentlich, oder?), öffnet sich die Möglichkeit andere Perspektiven wahrzunehmen.

Es könnte anders sein!
Menschen haben (fast) immer einen guten Grund, so zu handeln/reagieren, wie sie es tun. Es ist dieser Satz aus der Mediationsausbildung, den ich in sehr guter Erinnerung behalten habe. Unsere Erlebnisse und Erfahrungen prägen uns und beeinflussen, wie wir denken, handeln und reagieren. Eine Situation, die für mich einfach und unproblematisch ist, kann für andere Menschen belastend sein und andersherum. Es ist ein bißchen so wie in der Geschichte Der Tempel der 1000 Spiegel. Wobei das nicht heißen soll, daß alle Probleme sich auflösen, wenn man seiner Umgebung freundlich begegnet. Sondern eher, daß wir durch unsere guten und schlechten Erfahrungen geprägt werden.

Kleines Beispiel: meine ersten Grenzerfahrungen habe ich als Kind bei Reisen in die DDR gemacht. Es war immer eine angespannte Situation, weil meine Mutter 1956 geflohen ist und wir fast immer ziemlich gründlich kontrolliert wurden. Bei „Grenzen“ denke ich dementsprechend immer noch zuerst an genau diese angsteinflößende Atmosphäre, auch wenn ich bei all meinen späteren Reisen in andere Länder nie Probleme hatte. Aber diese erste „Erfahrung“ steckt tief in mir drin.

Andererseits habe ich bisher keinerlei unangenehme Erfahrungen mit Behörden oder mit der Polizei gemacht. Dementsprechend sind dies für mich keine angstbeladenen Situationen. Mit der Frage „was, wenn es anders wäre?“ kann ich mir aber vorstellen, daß Menschen mit anderen Erfahrungen und Erlebnissen jede neue Begegnung mit diesen Stellen als problematisch und schwierig empfinden. Aber wie merke ich, ob es wirklich so ist oder ob ich wiederum nur etwas unterstelle, was für mich passend aussieht? Wenn ich die Ruhe und Muße habe und mich der Mensch/das Thema interessiert, dann versuche ich Fragen zu stellen. Also offene Fragen. Auch das ist eine „Technik“, die ich während der Mediationsausbildung gelernt habe. Nicht immer werden meine Fragen beantwortet, nicht immer kann ich mit den Antworten etwas anfangen. Das ist in Ordnung. Aber in jeder offenen Frage (in der vor allem keine Bewertung enthalten ist) steckt die Chance, die Perspektive eines anderen Menschen zu sehen und (vielleicht) zu verstehen. Twitter hat mir dafür in vielen Gesprächen immer wieder gute Gelegenheiten gegeben – oft auch durch das Mitlesen von Gesprächen und Diskussionen. Nicht immer habe ich mich so verhalten, wie ich gerne wollte. Es gibt Gespräche, die nicht gut verlaufen sind, immer wieder Enttäuschungen und Verärgerungen bei Gesprächsbeteiligten. Und doch ist Twitter ein guter Ort, um immer wieder darüber nachzudenken, warum ein Mensch etwas so schreibt/macht/denkt, wie es in einem Tweet steht und die Chance darüber nachzudenken, was das mit mir macht und vor allem – wenn es mich „stört“ – warum das so ist. Denn es könnte ja einfach sein, daß ich nur meine Perspektive sehe …….