Wieviel Vielfalt verträgt die Twitter-Timeline?

Seit 2009 bin ich schon bei Twitter. Die ersten Jahre habe ich eher „passiv lesend“ verbracht, seit April 2012 nutze ich Twitter aktiv – mit entsprechenden „Folgen“: meine Followerzahl ist seitdem erheblich gestiegen. Die Zahl an sich ist für mich nicht wirklich wichtig, von weitaus größerer Bedeutung sind für mich die „qualitativen Aspekte“. Schon im August 2012 habe ich zu dem Thema einen kleinen Blogbeitrag geschrieben.

In den letzten anderthalb Jahren sind einige Follower dazugekommen: Menschen, die ich persönlich bei Barcamps, Twittwochen oder Konferenzen getroffen habe; Menschen, mit denen ich (oft unter einem gemeinsamen Hashtag) getwittert habe; Menschen, mit denen ich mich über Twitter ausgetauscht habe. Aus meiner Sicht ergibt sich ein recht buntes Bild – auch gerade was die Ansichten und Interessen angeht. Das merke ich immer wieder an den unterschiedlichen Themen, die Menschen in meiner Timeline begeistern oder aufregen.

Sind wir unter uns?
Trotzdem stellt sich natürlich die Frage, ob meine Vorstellung einer bunten und vielfältigen Timeline beziehungsweise Followerschar nicht doch eher ein „frommer Wunsch“ ist. Dabei geht es mir nicht einmal darum, daß viele Menschen Twitter überhaupt nicht nutzen. Mir geht es eher um die Frage meiner Auswahl. Inwieweit stelle ich mich bei meinen Folgen- oder Nichtfolgenentscheidungen meinen eigenen Anforderungen? Inwieweit sind meine Follower zwar in einigen Aspekten unterschiedlich (TV-Vorlieben, Freizeitgestaltung, politische Ausrichtung) aber doch eigentlich eine homogene Gruppe? Und wo liegen meine Grenzen?

Wertvolle Verstörung?
Manche Tweets irritieren mich. Sie enthalten Fragen, die ich mir nicht gestellt habe oder Aussagen, die ich nicht teile. Auch Kommentare und Rückfragen zu meinen Tweets sind manchmal irritierend. Manchmal denke ich „wie kann man das jetzt mißverstehen“ und hake trotzdem vorsichtig nach. Oft führen auch vermeintlich klare Aussagen in verbale „Untiefen“ – mit durchaus spannenden Twitterdialogen. Dieser Austausch ist gleichzeitig verstörend und wertvoll. Verstörend, weil so manche Tweets meine Meinung oder gar mein „Weltbild“ in Frage stellen, mich zwingen Farbe zu bekennen. Wertvoll, weil nur durch dieses Hinterfragen ein Lernen und auch eine Veränderung möglich ist. Damit meine ich nicht einmal, daß sich meine Meinung (oder die änderer Menschen) ändert, sondern daß ich Themen und Aspekte wahrnehme, ich mir bisher unbekannt oder verborgen waren. So habe ich in den letzten Monaten viel gelernt – zum Beispiel über Netzneutralität, über Datenschutz, über Kommunikation, über MOOCs und über mich.

Zu viel des Guten?
Aber es gibt auch Bereiche, mit denen ich mich schwer tue. Bevor ich jemandem bei Twitter folge schaue ich mir kurz seinen/ihren Account an und die Tweets der letzten Tage. Damit erhalte ich ein kleines „Stimmungsbild“. Menschen, die nur Werbebotschaften twittern oder nur mitteilen, wann bzw. mit wem sie wo Kaffee (oder andere Getränke) trinken, folge ich in der Regel nicht. Da fällt mir die Entscheidung aber auch recht leicht. Etwas schwerer tue ich mich bei eigentlich gut gemachten Tweets zu Inhalten, die mich weniger interessieren – zum Beispiel zu Mode, Schuhen, Kosmetik. Aber auch da folge ich eher selten zurück. Auch bei Tweets mit sehr negativer beziehungsweise abwertender Sprache folge ich in der Regel nicht.

Wirklich in einem Dilemma steckte ich allerdings vor kurzem, als ich in die Tweets eines neuen Followers schaute und dort zufällig befürwortende Tweets zu Todesstrafe und Internetpranger las. Ein kleiner Ausschnitt aus ganz vielen Tweets, eine kleine Anzahl von Tweets – ein anderer Zeitpunkt des Anschauens und ich hätte diese Tweets gar nicht wahrgenommen.
Inhaltlich bin ich da anderer Meinung. Das Dilemma? Einerseits gehört es zur Meinungsfreiheit, daß jeder Mensch sagen und schreiben kann, was er denkt. Diese Meinungsfreiheit ist mir sehr wichtig. Andererseits würde es mir schwer fallen, solche Tweets „unkommentiert“ in meiner Timeline stehen zu lassen. Denn bedeutet Schweigen hier nicht irgendwie Zustimmung? Und wenn ich nicht schweige? Eine Diskussion auf Twitter über solche Themen? Schwierig – vor allem aufgrund der Zeichenbegrenzung und der damit fast zwangsläufig auftretenden Mißverständnisse. Aber bedeutet Nichtfolgen nicht auch (bewußtes) Wegsehen?

Komfortabel in der eigenen „Blase“?
Bedeutet ein Nichtfolgen gleichzeitig auch, daß ich mich komfortabel in meiner eigenen virtuellen Ecke eingerichtet habe? Wohl ja! Es liegt natürlich an mir, wieviel (ideelle oder verbale) Störung ich in meiner Timeline zulasse. Aber gerade das aktuelle Dilemma zeigt mir die Grenzen meiner „virtuellen Blase“ auf.
Und Ihr? Was würdet Ihr machen?

Neugierig fragend schließe ich diesen Blogbeitrag!

Leben in einer überwachten Welt?

Letzten Samstag war ich – ziemlich spontan – in Frankfurt. Ich wollte mir unbedingt die Dürer-Ausstellung im Städel-Museum anschauen. Auf dem Spaziergang zum Museum kam ich zufällig am Museum für Kommunikation vorbei und entdeckte dort den Hinweis auf die noch bis zum 23. Februar 2014 laufende Ausstellung „Außer Kontrolle? Leben in einer überwachten Welt“ und natürlich habe ich diese Ausstellung (nach dem Besuch der Dürer-Ausstellung) besucht.

Gerade jetzt habe ich den Ausstellungsführer und Heft 3 von „Das Archiv – Magazin für Kommunikationsgeschichte“ zum Thema Kontrolle und Überwachung vor mir. Durchgelesen habe ich beides noch nicht, aber ich bin froh, daß ich das Heft (mit dem darin steckenden Ausstellungsführer) im Museum gekauft habe.

Das Thema Überwachung und der damit einhergehende drohende Verlust von Freiheit und Grundrechten hat mich in den letzten Monaten gedanklich sehr beschäftigt. Die Ausstellung in Frankfurt hat einerseits meine Befürchtungen in Worte (und Exponate) gepackt, andererseits aber auch die Beschäftigung mit Lösungsmöglichkeiten angeregt.

Ausgangspunkt der Ausstellung waren Exponate (Bilder, Fotos, Plakate) zu (zum Teil auch lokalen) Verhaltensregeln und zu Sanktionen und Strafen. Dabei werden wir nicht nur kontrolliert, sondern wir üben auch selbst (soziale) Kontrolle aus. Dem negativen Bild der „Kontrollgesellschaft“ (die langfristig zu Langeweile und Konformität führt) steht die (berechtigte) Sorge um andere Menschen gegenüber. Doch auch hier stellt sich natürlich die Frage, inwieweit die Unterstützung und Fürsorge für Kinder, Kranke und Senioren die Entscheidungsfreiheit mehr als notwendig beschränkt. Überhaupt: wie reagieren wir auf Kontrolle beziehungsweise Überwachung? Mit Gewöhnung? Mit Entziehen? Oder mit bewußter Sichtbarkeit/Präsentation? Zur zwischenmenschlichen Kontrolle kommen die unternehmerische Kontrolle (Datensammeln aber auch Kontrolle der Mitarbeiter) sowie die staatliche Kontrolle (Identifikation der Bürger, Polizei als Kontrollorgan, Überwachung des öffentlichen Raums und der Kommunikation) dazu.

Und nun? Erst einmal gibt es viel zu lesen – das Heft zur Ausstellung aber auch die „Panopticon Writings“ von Bentham. Gleichzeitig stelle ich mir die Frage, ob die Ansatzpunkte „gemeinsame Spielregeln“ und „bewußte Nutzung der Sichtbarkeit“ uns gerade in der aktuellen Situation weiterhelfen. Was, wenn wir uns nicht gegenseitig angreifen und ausgrenzen, sondern gemeinsam Spielregeln für Kommunikation und digitale Welt entwickeln. Was, wenn wir die Sichtbarkeit unserer Beiträge auf Plattformen/im Internet bewußt nutzen?

Ich bin froh, daß ich in der Ausstellung war und bedanke mich für die Anregungen!