Artikel 5 lebt!

Vor langer langer Zeit gab es mal einen Film mit dem Namen Nr. 5 lebt!. An diesen Filmtitel mußte ich denken, als ich gestern die Nachrichten und Tweets rund um das Thema „Regulierung“ und „Regeln“ von Meinungsäußerungen im Wahlkampf las. Für mich stellt sich das als Wunsch dar, die Meinungsfreiheit gemäß Artikel 5 Grundgesetz einzuschränken. Eine Einschränkung, die ich falsch finde – eine Einschätzung, die – wie ich gestern und heute verfolgen konnte – von vielen Menschen geteilt wird. Artikel 5 Grundgesetz muß leben, soll leben und lebt tatsächlich. Warum mir das wichtig ist, möchte ich in diesem Blogbeitrag erzählen.
Gleichzeitig ist die Beschäftigung mit diesem Thema auch ein Beitrag zur Blogparade „Was bedeutet mir die Demokratie“ des Deutschen Historischen Museums in Berlin.

Was Demokratie braucht?
Demokratie braucht den ständigen – friedlichen und angstfreien – Austausch zwischen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten. Jeder von uns ist irgendwie anders – andere Vorlieben und Interessen, andere Erfahrungen, andere Herkunft und letztendlich deswegen auch andere Ansichten.

Warum ist mir das Thema persönlich so wichtig?
Mein Leben ist in vielerlei Hinsicht einfach und privilegiert. Meine Eltern stammen aus einfachen Verhältnissen, haben es aber geschafft sich ein Häuschen zu ersparen und haben mir die Schulbildung und das Studium ermöglicht, das ich mir gewünscht habe. Es mag sein, daß viele Menschen einen einfacheren Weg hatten. Was aber sicher ist: viele Menschen hatten und haben einen schwierigeren Weg.
Meine Mutter ist mit 17 Jahren aus der DDR geflohen. Die Erfahrungen in der DDR haben sie sehr geprägt. Ihr war die Diskussion über gesellschaftliche und politische Themen immer wichtig. Oft waren wir völlig unterschiedlicher Ansicht, manchmal haben wir uns heftig gestritten. Ich habe dann „Beweise“ geliefert – Zeitungsartikel zum Beispiel. Und ich fand es bemerkenswert, daß meine Mutter – die keine Ausbildung und erst recht kein Studium hatte – bereit war, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. Sie war immer eine würdige aber auch faire Diskussionspartnerin. Von ihr habe ich meine Liebe zu Diskussionen aber auch die Bereitschaft, Menschen zuzuhören, die ganz andere Ansichten vertreten.
Demokratie und Meinungsfreiheit waren auf diese Art und Weise schon von Kindheit an wichtig. Meine Mutter hatte nie Angst vor Diskussionen – auch nicht mit Menschen, die einen viel höheren (formellen) Bildungsgrad hatten als sie. Das hat mich oft sehr beeindruckt (ich war als Kind sehr schüchtern!). Irgendwie schaffte sie es immer, mit anderen Menschen in ein Gespräch oder eine Diskussion zu kommen (ehrlich gesagt nicht immer zu meiner Freude…..).
Auch im Alter hat sich das bei ihr nicht verändert. Noch kurz vor ihrem Tod haben wir über viele Themen diskutiert – im Frühsommer 2017 überschlugen sich irgendwie die Ereignisse – Brexit, Wahlen in Frankreich, Putschversuch in der Türkei und im Herbst die Bundestagswahl und die Schwierigkeiten der Regierungsbildung. Sie hatte eine unglaubliche Freude an diesen Diskussionen – das ist mir tief in Erinnerung geblieben.

Wie kann man anderen Menschen dieses Thema näher bringen?
Seit ein paar Jahren gebe ich gelegentlich Kurse zu „Onlinethemen“ – in Weiterbildungsmaßnahmen zu Social Media, Online Redaktion und Datenschutz. Alles Themen, die nur denkbar sind, weil wir in Deutschland gemäß Art. 5 GG unsere Meinung äußern dürfen. Irgendwann bin ich im Rahmen der Kursvorbereitung darauf gekommen, die Grundrechte und vor allem Art. 5 GG zumindest für einige der Kurse in eine „Aufgabe“ zu packen. Ich wollte den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Kurse ein Gefühl für die Schönheit und herausragende Bedeutung der Grundrechte vermitteln. Ab 2016 wurde diese Vorgehensweise wichtiger als vorher. Gerade in Anbetracht der sich verändernden Situation in Deutschland wurde das Spektrum der Meinungen „breiter“, die Ablehnung von Andersdenkenden wurde (zumindest für mich) sichtbarer. Umso wichtiger fand ich es, mit anderen Menschen über Sinn und Umfang der Meinungsfreiheit und der anderen Freiheiten aus Art. 5 GG zu sprechen und zu diskutieren. Wir suchen die in Artikel 5 GG enthaltenen Grundrechte, reden über die Schranken in Absatz 2, über Zensur und über den Unterschied zwischen Absatz 1 und Absatz 3. Es gab wundervolle Diskussionen und es gab schwierige Diskussionen. Manche Runde mußte ich aus zeitlichen Gründen auch beenden. Es war sehr spannend, diese Gespräche zu führen.
Gerade gestern habe ich wieder in einem Kurs zum Thema Online Redaktion mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern über Art. 5 GG gesprochen – diesmal stand das Thema „Kunstfreiheit“ stark im Vordergrund (wir hatten vorher kurz über das Böhmermann-Gedicht gesprochen). Es ging um die Frage, ob Kunst geschmackvoll oder moralisch sein müsse. Spannende Fragen – die wir gemeinsam diskutiert haben.
Es fühlte sich merkwürdig an, nach dem Kurs lesen zu müssen, daß es Politiker gibt, die Meinungsäußerungen im Internet „irgendwie“ regulieren oder Regeln unterwerfen möchten.

Was bedeutet für mich Meinungsfreiheit?
„Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“ laut ein berühmtes Zitat von Evelyn Beatrice Hall über Voltaire. Diese Voltaire zugeschriebene Haltung kann ich sehr gut nachvollziehen. Gerade in Anbetracht der deutschen Geschichte ist es aus meiner Sicht extrem wichtig, daß wir die Meinungsfreiheit bewahren und pflegen. Dabei muß man allerdings zwei Dinge unterscheiden. Die vom Bundesverfassungsgericht definierte Meinungsfreiheit ist glücklicherweise sehr weit. Das, was gemäß Artikel 5 GG zulässig ist, enthält auch viele Aussagen, die mir inhaltlich und sprachlich mißfallen. Meinungsfreiheit bedeutet für mich gerade, daß Menschen diese Dinge sagen dürfen und ich ihr Recht dazu anerkenne und diese Aussagen toleriere. Was ich aber nicht muß: mit Menschen diskutieren, deren Aussagen mir inhaltlich oder sprachlich mißfallen. Meine persönliche Grenze darf niemals dazu führen, daß Menschen etwas nicht mehr sagen dürfen. Der breite Umfang der Meinungsfreiheit darf allerdings auch nicht dazu führen, daß ich unerwünschte Gespräche oder Diskussionen führen muß.
Gerade in den letzten Jahren ist der Ton in den sozialen Netzwerken (ich nutze vor allem Twitter) und in politischen Diskussionen und Talkrunden rauher geworden. Ich folge auf Twitter sehr bewußt Menschen, deren Ansichten ich nicht teile. Ich achte darauf, ihre Inhalte möglichst nicht zu teilen – weil ich sie nicht „stärken“ möchte oder ihnen Sichtbarkeit verschaffen möchte. Trotzdem finde ich es wichtig, ihre Ansichten und Argumente zu sehen und nachvollziehen zu können. Dieses Sehen und Nachvollziehen bedeutet für mich nicht, daß ich sie verstehe oder gar ihre Ansichten teile. Ich glaube aber, daß Gespräche in der Gesellschaft überhaupt nur dann möglich sind, wenn wir uns auch mit weit abweichenden Ansichten auseinandersetzen. Twitter soll für mich keine „Blase der glücklichen Tweets“ sein, ich möchte bewußt auch das mitbekommen, was mir mißfällt, mich stört und was ich nicht verstehe. Denn auch das gehört zur Meinungsfreiheit.

Was mir fehlt….
Was mir oft fehlt ist eine gute Gesprächskultur. Im kleinen geht das, bei größeren Diskussionen ist das schwierig – vor allem, wenn politische Gegner aufeinander prallen. Wie oft habe ich in diesem Jahr schon Dinge gelesen, die ich als beleidigend oder als persönlich angreifend auffasse. Auch Forderungen nach Rücktritt finde ich oft schwierig. Andererseits fehlt die Gesprächskultur auch vielen Amtsträgern. Ich war über die Äußerungen von Herrn Voss im Rahmen der „Urheberrechtsreform“ entsetzt. Es ist eine Sache, anderer Meinung zu sein – es ist eine völlig andere Sache, Menschen die sich für etwas einsetzen, zu diskreditieren. Das Bild, das Herr Voss und damit die CDU bei mir hinterließ, war: „Du darfst Stimmvieh sein, aber Deine Meinung interessiert uns nicht die Bohne.“ Umso schlimmer, daß vieles, was Herr Voss im Laufe der Zeit sagte, einfach falsch war. Dieser Eindruck wurde in den letzten Tagen noch gesteigert. Ja, es ist nicht schön, eine Wahl zu verlieren. Eine verlorene Wahl sollte aber für alle Beteiligten ein Anreiz sein, über gute Ideen nachzudenken, um Politik gut zu gestalten. Ich verstehe Politik nämlich als eine Art von Wettbewerb der guten Ideen und Konzepte.

Die verlorene Mittlerrolle…..
Was ich gestern jedoch ganz stark wahr nahm, war die Trauer über den Verlust der verlorenen Mittlerrolle und das hat mich sehr irritiert. Luther hat mit der Reformation die Mittlerrolle der Kirche zerstört. Der Mensch konnte plötzlich unmittelbar mit Gott sprechen, er brauchte die Kirche nicht mehr als Mittler. Parteien und klassische Medien haben lange Zeit eine ähnliche Rolle gehabt. Das hatte für beide Seiten sicherlich Vorteile. Andererseits fand ich manches oft nervig. Wahlkampfthemen, die mich nicht ansprachen, Wahlwerbung und Wahlplakate, die mich nicht interessierten – TV-Gespräche mit Spitzenkandiaten oder Talkshowrunden, die mit meinem Leben wenig oder gar nichts zu tun hatten. Die Tatsache, daß wir alle über das Internet und Social Media unsere Meinung äußern können, über Themen diskutieren und auch (wie zum Beispiel bei Fridays for Future oder den Demonstrationen gegen Art. 17 der Urheberrechtsreform) uns – wenn gewollt – organisieren können, stellt eine neue zeitgemäße Form von Meinungsfreiheit und Demokratie dar. Das macht Parteien aus meiner Sicht nicht überflüssig, es verlangt von ihnen aber, die Menschen nicht nur alle vier oder fünf Jahre als potentielle Wähler zu sehen, sondern ihnen zuzuhören und sich mit ihren Anliegen und Themen zu beschäftigen. Social Media – mit YouTube, Twitter und Co ist da eine vorherragende Möglichkeit, dieses Zuhören zu üben und (ohne falsche Versprechen) auch über mögliche Themen zu sprechen. Die Youtuber rund um Rezo haben das erfolgreich vorgemacht.

Und nun?
Ich glaube nicht, daß wir über Regeln für einen „fairen Wahlkampf“ sprechen müssen. Eine Meinungsäußerung durch YouTuber ist nicht unfair. Es ist einfach nur eine Meinungsäußerung, so wie sie von den großen Parteien auch an anderer Stelle bereits genutzt wird (beispielhaft hier für die SPD und für die CDU). Letzlich ist auch jeder Zeitungsartikel und jede Talkshow eine Meinungsäußerung in bezug auf einen (irgendwann) kommenden Wahlkampf. Vielleicht ist das ein Kernproblem unserer Zeit. Menschen in der Politik beharren oft stärker auf den Ansichten ihrer Partei, lehnen Gedanken und Ideen von „den anderen“ ab, weil diese ja „Gegner“ sind. Ich habe oft den Eindruck, daß nicht die gute inhaltliche Lösung, sondern das Gewinnen oder Verlieren im Wettstreit der Parteien zählt. Ja, das betrifft auch uns Wählerinnen und Wähler – ich nehme mich da gar nicht aus. Aber vielleicht bietet uns die heutige Zeit auch die Chance, uns in diesem Punkt weiterzuentwickeln.

Was ich mir wünsche?
Ich möchte auch weiterhin in Frieden und ohne Angst meine Meinung äußern können. Ich möchte, daß alle Menschen in Deutschland (am liebsten auch in Europa und in der ganzen Welt) – egal welcher Nationalität, Herkunft, Religion, Orientierung, Ansichten etc – dies im Rahmen der Regeln von Art. 5 GG tun können und daß wir alle, dieses Recht tolerieren (auch wenn uns einzelne Inhalte mißfallen), achten und verteidigen und zwar gegenüber jedem, der dieses Recht angreift! Wer die Meinungsfreiheit angreift, greift nach meinem Verständnis die Demokratie an. Deswegen müssen wir wachsam sein und auf die Menschen achten, die – aus welchen Gründen auch immer – unsere Unterstützung brauchen, damit auch ihre Meinung gehört werden kann.

Die Wahl des Obertiers

Gestern, als ich gegen Abend einen kurzen Spaziergang machte, trat plötzlich ein Fuchs auf mich zu. Ich erschrak natürlich, doch er sagte sofort „Keine Angst, ich möchte Dir nur eine Geschichte erzählen.“ Es war eine unglaubliche Geschichte und deshalb schreibe ich sie auf, solange sie mir noch gut im Gedächtnis ist.

Eines Tages wollten die Tiere ein neues Obertier wählen. Der Bär, der schon lange das Obertier gewesen war, trat natürlich wieder zur Wahl an. Als großes und starkes Tier – so fand er – gebührte ihm die Wiederwahl. Aber was ist eine Wahl ohne Gegner? Das Wiesel, das schon länger im Rat der Tiere gemeinsam mit dem Bären gearbeitet hatte, trat ebenfalls zur Wahl des Obertieres an.
Zunächst konnten sich die Tiere nicht so richtig entscheiden, ob sie lieber den Bären oder das Wiesel als Obertier wählen wollten. Eine Stichwahl mußte her.

Nur wenige Tiere zeigten wirklich Interesse an der Wahl. Viele waren gelangweilt, resigniert und lustlos. Der Hund, der auf der Bühne des Waldes, das zweite Tier der bremisch-stadtmusikalischen Vereinigung war, hatte jedoch eine deutliche Meinung zu dieser Wahl. Damit möglichst viele Tiere diese Meinung mitbekamen ritzte er in seinen Baum – an dem immer viele Tiere vorbeikamen – eine deutliche Botschaft. Er warf (in derber Sprache) dem Bären den Winterschlaf und seine Liebe zu Honig vor, lobte die Flinkheit und Energie des Wiesels und sagte ihm eine glänzende Zukunft voraus, wenn es sich nur deutlich genug vom Bären fernhalten würde. Einige Tiere vernahmen die Botschaft, auch der Bär.

Der Bär war verletzt, sehr verletzt. Das war einerseits verständlich – denn wer wollte schon ein Wiesel als Obertier bevorzugen, wenn man einen großen und starken Bären haben konnte; andererseits war es nicht verständlich – konnte denn ein großer und stärker Bär Angst vor einem Wiesel und der Äußerung eines Hundes haben?
Vielleicht hätten Bär, Wiesel und Hund diese Frage – wie andernorts schon erprobt* – in einem Gesangswettwerb geklärt. Aber die Zeit war knapp, der Honig vielleicht auch und der Bär schon leicht ungeduldig. So schickte er dem Hund und der bremisch-stadtmusikalischen Vereinigung nur eine kurze Botschaft, in der er sein Mißfallen an den Baumkritzeleien des Hundes ausdrückte.

Vermutlich war der Bär schon damit zufrieden, daß er überhaupt etwas unternommen und damit seine Größe und Stärke gezeigt hatte, vielleicht ging der Bär auch davon aus, daß der Hund seine Baumkritzeleien schnell entfernen oder zumindest ändern würde. Wir wissen es nicht.
Die Sperlinge pfiffen es von den Dächern als die bremisch-stadtmusikalische Vereinigung – vertreten durch ihr Obertier, die Katze – sich auch noch äußerte. Hund und Katze halt – das ist halt immer ein ergiebiges Thema und man ahnt schon, daß die Äußerung für den Hund nicht besonders angenehm ausfiel. Die Katze forderte vom Hund Neutralität und Pfotengefühl. Als zweites Tier der bremisch-stadtmusikalischen Vereinigung sei er dazu verpflichtet. Der Hund war erbost und berief sich auf die Verfassung der Tiere, die auch ihm ein Recht gibt, seine Meinung in seinen Baum zu ritzen. Auch dies ritzte er natürlich in seinen Baum.

Die Sperlinge hatten viel zu pfeifen in diesen Tagen und waren am Abend sicherlich rechtschaffen müde. Die Tiere waren mittlerweile ermüdet und während Bär und Wiesel sich um die Wahl des Obertiers kümmerten, waren auch Hund und Katze „gut“ beschäftigt.

Der Fuchs lief schweigend neben mir her. Und – fragte ich – wer hat die Wahl des Obertiers gewonnen? Das ist nicht die richtige Frage antwortete der Fuchs. Wichtiger ist eigentlich, ob es irgendjemanden gibt, der nicht verloren hat. Während ich noch über diese Antwort nachdachte, verschwand der Fuchs im Wald. Unter dem nächsten Baum fand ich ein aufgeschlagenes Büchlein – ganz dick stand dort „Meinungsfreiheit“.

* Jorge Bucay: Gesangswettbewerb