Buch-Shopping-Gedanken….

Übermorgen werden die allermeisten Geschäfte für eine begrenzte Zeit geschlossen. Ein komisches Gefühl. Etwas, das ich „so“ vor diesem Jahr noch nicht erlebt habe. Und irgendwie fühlt es sich auch noch einmal anders an als im März…. Wie wird es den Geschäftsinhabern ergehen? Welche Geschäfte werden diese Zeit überstehen? Ich habe heute bei Twitter mit @ewigeSommerzeit über dieses Thema diskutiert. Wir waren uns nicht einig, aber das ist auch nicht schlimm. Unsere „Einkaufserlebnisse“ sind vermutlich völlig unterschiedlich….

So ganz grundsätzlich gehe ich gerne Einkaufen. Meine Lieblingsgeschäfte sind Buchhandlungen. In normalen Jahren komme ich nur selten an Buchhandlungen vorbei. Das Schöne: ich flaniere (oft stundenlang, je nach Größe der Buchhandlung) durch die Abteilungen. Der Stapel, den ich mit mir herumtrage wird in der Zwischenzeit immer größer (wie oft haben mir nette Verkäuferinnen und Verkäufer zwischendurch die Stapel abgenommen oder mir diese praktischen Taschen gereicht ….). Es ist ein ungeplantes Entdecken von Büchern, die ich sonst gar nicht gefunden hätte. Ein Rufen der Bücher nach mir – oft höre ich ein zartes „kauf mich“ und ich weiß, da wartet ein Buch auf mich, das für mich bestimmt ist (vielleicht bin ich ja auch für das Buch bestimmt ….). Nicht alle Bücher lese ich sofort. Manche müssen lange geduldig auf die Lesezeit warten. Aber irgendwann ist es dann soweit…. In vielen Städten gibt es Buchhandlungen, die ich gerne und immer wieder besuche. In Essen zum Beispiel die Buchhandlung Proust, in Düsseldorf, Köln und Frankfurt die Bahnhofsbuchhandlungen und in Berlin das Kulturkaufhaus Dussmann (ja, da verbringe ich üblicherweise Stunden, wenn ich ganz oben anfange und mich bis zum Erdgeschoß „durcharbeite“….). Mit all diesen Buchhandlungsbesuchen verbinde ich schöne Erinnerungen….

Dieses Jahr ist vieles anders. Anfang des Jahres habe ich noch ein paar Bücher im LWL-Museum in Herne gekauft – die Pest-Ausstellung war toll und die Bücher im Museumsshop waren sehr interessant. Bald danach kam die Corona-Zeit und die Buchhandlungen (und natürlich auch die Museen) mußten schließen. Mein Vorrat an Büchern war (und ist) ziemlich groß, meine Unruhe und Unsicherheit in dieser Zeit allerdings auch. Es war keine Zeit des Lesens, dazu habe ich im Juni auch einen Beitrag geschrieben. Und weil es keine Zeit des Lesens war, war es auch keine Zeit des Bücherkaufens. Es fehlte so vieles – das entspannte Flanieren durch die Buchhandlungen, das lesende Genießen oder genießende Lesen aber auch die Sicherheit, mir neue Bücher leisten zu können. Beruflich war ich im Sommer kurz in Hamburg – ich war nur in der Bahnhofsbuchhandlung und habe diese ohne neue Bücher wieder verlassen.

Mittlerweile ist zumindest bei mir vieles ruhiger geworden und das Jahr sieht im Rückblick nicht ganz so schlecht aus, wie ich befürchtet hatte. Natürlich habe ich mich auch mit ein paar Büchern belohnt – Weihnachtsshopping im „English Bookshop“ bei Dussmann – nicht so schön und überraschend wie der persönliche Besuch, aber doch mit tollen Fundstücken! Ich habe jetzt ein paar (hoffentlich gute) Weihnachtskrimis! Schön war der in dem Buchpaket liegende Umschlag mit der Aufschrift „danke“ und einer schönen Karte. Und schön auch der persönliche Kontakt über Twitter. Ich freue mich wirklich darauf, irgendwann wieder durch die Buchhandlung zu flanieren! Und bis dahin nutze ich die roten Stofftaschen immer wieder auch für meine „normalen“ Einkäufe!

Am Freitagnachmittag war ich auch noch kurz in Elberfeld in der Thalia-Buchhandlung (ja, eigentlich gehe ich da nicht sooo gerne hin, aber die haben genau die Sorte Terminkalender, die ich für 2021 noch habe wollte). Auch dort habe ich – sozusagen kurz vor „Toresschluß“ noch ein paar Bücher entdeckt (und gekauft), die ich online nicht gefunden hätte. Und das ist für mich der wichtige Punkt: das Schlendern durch eine Buchhandlung – egal wie groß oder klein sie ist – bringt mich mit Themen, AutorInnen und Gedanken in Verbindung, auf die ich sonst nicht kommen würde. Es gibt eigentlich nur wenige Bücher, die ich bewußt suche oder bestelle, die meisten Bücher, die ich kaufe, sind eher solche „Zufallsfunde“, weil ich eben durch Buchhandlungen oder Museumsshops schlendere. Für mich sind das tatsächlich „geistige Tankstellen“.

Ich finde es durchaus nachvollziehbar, dass die Buchhandlungen im Moment auch geschlossen werden. Aber ähnlich wie Blumenläden, die für mich ein Symbol für Lebensfreude sind (auch wenn ich nicht ständig Blumen kaufe) sind Buchhandlungen für mich tatsächlich eine Art Grundbedarf – weil ich schon den Besuch als anregend und inspirierend empfinde. Das kann ein Online-Shop nicht ersetzen, es fehlt einfach dieses Serendipity-Prinzip, dieses Finden ohne eigentlich zu suchen…. Ja, ich werde diese Zeit mit meinem Buchvorrat sicher gut überstehen. Aber ich hoffe sehr, dass die Buchhandlungen, die ich gerne besuche, auch nach dieser Zeit noch da sind!

Eine Frage der Perspektive…..

Eigentlich, ja eigentlich sollte ich heute etwas anderes machen. Den Kurs für die Medienfachwirte vorbereiten, Anfragen von Mandanten beantworten…. Aber: irgendwie hat mir das Schicksal – in diesem Fall in Form eines Twittergesprächs – ein Thema vor die Füße geworfen, daß ich nicht liegenlassen möchte. Daher gibt es hier – endlich mal wieder – einen Blogbeitrag.

Heute morgen las ich folgenden Tweettext: „Die Fähigkeit, die Perspektive eines anderen Menschen einnehmen zu können, bedeutet nicht die Negierung der eigenen Perspektive sondern es bedeutet die Fähigkeit, die Perspektive eines anderen Menschen einnehmen zu können, um damit eine größere, eigene Perspektive zu erlangen.“ Ich habe erst einmal in Ruhe über diesen Satz nachgedacht. Dann habe ich genickt und den Satz retweetet. Kurz danach las ich (völlig unabhängig von meinem Retweet) eine Antwort auf diesen Tweet: „Wobei offen bleibt, welche Perspektive eingenommen wird, wenn man meint, die Perspektive eines anderen Menschen einzunehmen. Könnte es nicht auch sein, dass damit wieder nur die eigene Perspektive – nun als Projektion einer vermeintlich anderen Perspektive – eingenommen wird?“ Hmm, ja – schon irgendwie. Aber greift das nicht zu kurz? Führt nicht auch der Versuch, eine andere Perspektive einzunehmen zu Veränderung oder zu mehr Verständnis? Ich antwortete und ein spannendes Twittergespräch entspann sich. Danke an @SKunzke und @DanielHornuff für die Anregung zu diesem Thema und dieses Gespräch (witzigerweise an einem Tag, an dem ich vorher einen Tweet zum Thema „fehlende Twittergespräche“ beantwortet und kurz etwas zum Thema „Mediation“ geschrieben habe – beides hängt interessanterweise eng zusammen).

Die eigene Perspektive
Wir alle haben – ob bewußt oder unbewußt – unsere Sicht auf die Dinge, unseren Standpunkt. Ganz einfach betrachtet: wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich meinen Garten. Auch die Nachbarn rechts und links von mir können meinen Garten sehen, aber ihr Blickwinkel auf meinen Garten ist anders. Einmal, weil sie tatsächlich andere Dinge sehen können (ich kann zum Beispiel die Himbeeren nicht sehen, weil die hinter einem ziemlich großen Strauch stehen, von der Seite kann man die sehen), zum anderen weil sie andere Dinge mögen (andere Pflanzen/Blumen, weniger Unkraut, keine wild wachsende Wiese). Ich mag meinen Garten (auch wenn ich tatsächlich mal etwas Gartenarbeit machen sollte), aber ich vermute – sicher nicht zu Unrecht – daß meine Nachbarn meine Ansicht nicht teilen.

Wo immer wir uns körperlich befinden, nehmen wir unsere Umgebung wahr. Wir sehen, hören oder riechen etwas. Und irgendwie denken wir ziemlich oft, daß andere Menschen in diesem Moment genau dasselbe hören, sehen oder riechen. Das kann so sein, aber Mißverständnisse entstehen oft dann, wenn wir das voraussetzen. Ich weiß noch, daß ich vor einigen Jahren (kurz nach Beginn der Mediationsausbildung) mit meiner Mutter im Siebengebirge wandern war. Wir waren in einem Wald. Meine Mutter schaute sich um und sagte „Schöner Baum.“ Wir waren in einem Wald. Es gab nicht nur einen Baum, sondern zig Bäume. Was tun? Nicken und bestätigen oder nachfragen? Normalerweise hätte ich einfach „ja“ gesagt, denn es gab dort wirklich schöne Bäume. Aber die Mediationsausbildung provozierte mich in diesem Moment zur Nachfrage „Welchen Baum meinst Du?“ Meine Mutter fand die Nachfrage nicht wirklich gut, wir haben das Thema nicht weiter verfolgt, aber diese kleine Szene ist mir doch in Erinnerung geblieben.
Andererseits ist es manchmal schwierig, beim eigenen Standpunkt zu bleiben, wenn andere Menschen einen fragend oder ablehnend anschauen oder sich sogar deutlich dagegen aussprechen. Vor vielen Jahren wanderte ich Ende April mit meiner Mutter in der Nähe von Eisenach. Wir gingen einen Waldweg an einem Flüßchen hinunter und ich nahm die ganze Zeit einen immer stärker werdenden Bärlauchduft wahr. Irgendwann sagte ich „es duftet nach Bärlauch“. Aber da war kein Bärlauch zu sehen und meine Mutter hielt das für eine Verirrung meiner Nase. Trotzdem. Ich bestand darauf. Einige Wegbiegungen später sahen wir auf der anderen Seite des Flüßchens ein richtig großes Bärlauchvorkommen.

Die eigene Perspektive ist aber nicht auf diese unmittelbar körperliche Wahrnehmung begrenzt. Wenn ich etwas lese – einen Tweet zum Beispiel, einen Blogbeitrag, einen Zeitungsartikel oder ein Buch – dann mache ich mir auch darüber Gedanken. Ich stimme zu (wie im Fall des oben geschilderten Retweets) oder ich lehne den Gedanken oder die Wortwahl ab. Manchmal äußere ich mich dann, manchmal (eigentlich meistens) nicht. Aber irgendwie habe ich immer eine Art von „Erklärung“, warum etwas für mich nicht paßt, sich für mich „falsch anhört“. Es ist nicht immer eine logische oder irgendwie begründete „Erklärung“, manchmal ist es einfach das Gefühl „das ist falsch“ oder „das paßt für mich nicht“. Und wenn es falsch ist, dann darf ich das ja auch so sagen/schreiben. Oder etwa nicht?

Was, wenn es anders wäre….?
Das was ich fühle, denke, wahrnehme ist für mich selbst erst einmal richtig. Es ist meine subjektive Wahrheit. Aber: wenn es für mich wahr ist, wie kann es dann für andere Menschen falsch sein? Liegen diese Menschen dann nicht falsch? Und ist es dann nicht hilfreich und wichtig, daß ich Ihnen die Wahrheit mitteile?

Ja, wenn es so einfach wäre….. Denn oft gibt es viele „Wahrheiten“ – also Sichtweisen, die nicht falsch sind, die sogar gleichzeitig richtig und zutreffend sind. Eben eine Frage der Perspektive! Es war der Vorteil der Mediationsausbildung, daß ich mich mit diesem Thema tiefer beschäftigen konnte und durfte.

Kennt Ihr „Vexierbilder“? Also diese Bilder, die gleichzeitig unterschiedliche Bilder enthalten? Ich habe hier einmal ein Beispiel verlinkt – was seht Ihr auf diesem Bild? Oder hier? Es ist gleichzeitig faszinierend und verwirrend, daß wir unterschiedliche Dinge sehen können und doch gleichzeitig mit unserer Wahrnehmung dessen, was wir sehen, recht haben. „Wahrheit“ ist bei diesen Bildern eben nicht auf eine einzige Art der Wahrnehmung beschränkt. Es gibt kein „nur das ist richtig“. Was aber, wenn wir nicht alles „sehen“, was wir sehen könnten?

David Foster Wallace hat in seinem – ursprünglich als Rede verfaßten – Text „This is water“ gute Beispiele gebracht, warum wir durch die Fokussierung auf uns selbst – also auf uns selbst als Mittelpunkt der Welt – sehr viel gar nicht sehen und wahrnehmen können. Wenn ich in einem vollen Supermarkt an der Kasse warte, dann kann ich mich darüber ärgern, daß so viele Menschen auch gerade einkaufen wollen. Oder ich kann darüber nachdenken, ob diese Menschen auch gerade genau dasselbe denken, ob sie vielleicht noch viel weniger als ich zu einem anderen Zeitpunkt einkaufen gehen können. In dem Moment, wo ich den Gedanken zulasse, daß die Welt sich nicht nur um mich dreht (schade eigentlich, oder?), öffnet sich die Möglichkeit andere Perspektiven wahrzunehmen.

Es könnte anders sein!
Menschen haben (fast) immer einen guten Grund, so zu handeln/reagieren, wie sie es tun. Es ist dieser Satz aus der Mediationsausbildung, den ich in sehr guter Erinnerung behalten habe. Unsere Erlebnisse und Erfahrungen prägen uns und beeinflussen, wie wir denken, handeln und reagieren. Eine Situation, die für mich einfach und unproblematisch ist, kann für andere Menschen belastend sein und andersherum. Es ist ein bißchen so wie in der Geschichte Der Tempel der 1000 Spiegel. Wobei das nicht heißen soll, daß alle Probleme sich auflösen, wenn man seiner Umgebung freundlich begegnet. Sondern eher, daß wir durch unsere guten und schlechten Erfahrungen geprägt werden.

Kleines Beispiel: meine ersten Grenzerfahrungen habe ich als Kind bei Reisen in die DDR gemacht. Es war immer eine angespannte Situation, weil meine Mutter 1956 geflohen ist und wir fast immer ziemlich gründlich kontrolliert wurden. Bei „Grenzen“ denke ich dementsprechend immer noch zuerst an genau diese angsteinflößende Atmosphäre, auch wenn ich bei all meinen späteren Reisen in andere Länder nie Probleme hatte. Aber diese erste „Erfahrung“ steckt tief in mir drin.

Andererseits habe ich bisher keinerlei unangenehme Erfahrungen mit Behörden oder mit der Polizei gemacht. Dementsprechend sind dies für mich keine angstbeladenen Situationen. Mit der Frage „was, wenn es anders wäre?“ kann ich mir aber vorstellen, daß Menschen mit anderen Erfahrungen und Erlebnissen jede neue Begegnung mit diesen Stellen als problematisch und schwierig empfinden. Aber wie merke ich, ob es wirklich so ist oder ob ich wiederum nur etwas unterstelle, was für mich passend aussieht? Wenn ich die Ruhe und Muße habe und mich der Mensch/das Thema interessiert, dann versuche ich Fragen zu stellen. Also offene Fragen. Auch das ist eine „Technik“, die ich während der Mediationsausbildung gelernt habe. Nicht immer werden meine Fragen beantwortet, nicht immer kann ich mit den Antworten etwas anfangen. Das ist in Ordnung. Aber in jeder offenen Frage (in der vor allem keine Bewertung enthalten ist) steckt die Chance, die Perspektive eines anderen Menschen zu sehen und (vielleicht) zu verstehen. Twitter hat mir dafür in vielen Gesprächen immer wieder gute Gelegenheiten gegeben – oft auch durch das Mitlesen von Gesprächen und Diskussionen. Nicht immer habe ich mich so verhalten, wie ich gerne wollte. Es gibt Gespräche, die nicht gut verlaufen sind, immer wieder Enttäuschungen und Verärgerungen bei Gesprächsbeteiligten. Und doch ist Twitter ein guter Ort, um immer wieder darüber nachzudenken, warum ein Mensch etwas so schreibt/macht/denkt, wie es in einem Tweet steht und die Chance darüber nachzudenken, was das mit mir macht und vor allem – wenn es mich „stört“ – warum das so ist. Denn es könnte ja einfach sein, daß ich nur meine Perspektive sehe …….

Arbeiterkinder und Bildung …..

Im Moment schreibe ich wenig Blogbeiträge (und noch weniger auf Twitter). Aber manchmal liest man etwas und weiß für sich selbst, das man das „so“ nicht stehen lassen möchte. Auslöser dieses Beitrages war gestern ein Tweet von Johanna Sprondel, deren Tweets ich sehr gerne lese, die aber gestern etwas schrieb, das mich störte und auch in einem gewissen Ausmaß ärgerte. Es ging um Schule, Arbeiterkinder und Chancen. Ein Thema, das mich letztes Jahr schon unter dem Aspekt „Bildungsbürger“ beschäftigt hat.

Der Ausgangspunkt
Ich hatte in meinem Leben – gerade auch während meiner Kindheit und Jugend – viel Glück. Meine Mutter war „nur“ Arbeiterin, sie hatte in der DDR die damals üblichen 8 Klassen absolviert und arbeitete dann (ohne daß sie eine Wahl hatte) in der Landwirtschaft, bevor sie 1956 mit 17 Jahren flüchtete. Sie ist in ihrem Leben vielen unterschiedlichen Menschen begegnet und war immer neugierig und lernbegierig. Formales Lernen fiel ihr aber oft schwer – ich habe das später oft gemerkt, als sie versucht hat für eine unserer Reisen ein bißchen Französisch oder Spanisch zu lernen. Es hat ihr immer sehr viel Freude bereitet, aber die Fortschritte waren – zumindest nach meinem Empfinden – immer gering im Verhältnis zu dem zeitlichen Aufwand…. Sie kam mit einem kleinen Koffer nach West-Berlin – ohne Bücher, ohne Ausbildung. Sie wurde dann ausgeflogen und kam (weil ein Bruder hier wohnte) nach NRW. Dort wohnte sie dann nach kurzer Zeit in einem Mädchenheim und arbeitete so viel wie möglich, um Geld zu verdienen. Alles „ungelernte“ Arbeit. Als Kind hatte sie gerne gelesen, in ihrer Jugend und frühen Erwachsenenzeit blieb dafür keine Zeit. Sie hatte auch keine Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen. Mein Vater hatte immerhin einen Schulabschluß, eine Ausbildung als technischer Zeichner und weitere Ausbildungen über Fernkurse (ich meine sogar ein Fernstudium, aber ich bin mir nicht sicher). Als die beiden eine Familie gründeten hatten sie große Hoffnungen und Ambitionen, kaum Bücher, wenig Geld. Ihr größter Traum war ein kleines Reihenhaus. Für diesen Traum haben sie jahrelang gespart – keine Bücher, kein Theater, kein Ausgehen, keine Restaurantbesuche, keine Reise. Ihr größtes Vernügen waren Spaziergänge und Wanderungen. 1969 kam ich dann auf die Welt.

1974 zogen wir in Wuppertal in ein kleines Reihenhaus. Es war wunderschön, in einem eigenen Garten spielen zu können, mit frisch geernteten Blaubeeren, Johannisbeeren und Äpfel aufzuwachsen, bei gutem Wetter direkt vor der Haustür draußen spielen oder später einfach auf der Terrasse ein Buch lesen zu können. Ja, Bücher. Meine Eltern haben mir weder viele noch sehr große Geschenke geschenkt (Geld war gerade in den ersten Jahren knapp), aber Bücher waren immer dabei. Schöne Bilderbücher, ein Buch „Tiere in Feld und Wald“, Märchen von den Gebrüdern Grimm und etwas später auch zum Beispiel Bücher von Astrid Lindgren. Ich habe diese Bücher gerne gelesen. Irgendwann kam auch eine Weihnachtsserie „David Copperfield“ nach dem Buch von Charles Dickens im Fernsehen. Ich habe diese Filme geliebt und wollte das Buch unbedingt lesen. Zum nächsten Geburtstag habe ich es von meinen Eltern als Geschenk bekommen. Auch Theodor Storm (in 5 Bänden) und Goethe (in zwei Hardcoverbänden) folgten auf diesem Weg. Ja, so hielten plötzlich Klassiker Einzug in unser Haus.
Meine Eltern hatten am Anfang keine Bücher, es war einfach kein Geld da, um Bücher zu kaufen und so konnte ich nicht mit einem gut bestückten Bücherregal (das ich hätte „plündern“ können) aufwachsen. Es gab eine Bibel in alter Schrift (die ich nur schwerlich lesen konnte), ein altes zweibändiges Lexikon (das ich aus historischen Gründen sehr mag), etwas von Zweig, Steinbeck, Colon und Konsalik. Aber eben nicht viel und schon gar nicht die „üblichen“ Klassiker. Diesen Unterschied und was das ausmacht habe ich erst viele Jahre später gemerkt.

Irgendwann wurde es finanziell auch einfacher. Eine Mitgliedschaft im Buchclub von Bertelsmann kam dazu (gelegentlich durfte ich dann aussuchen, welches Buch wir kaufen – dadurch habe ich ein schönes 20-bändiges Lexikon). Irgendwann kam auch „Readers Digest“ dazu (und verschwand irgendwann auch wieder) – mit dem regelmäßigen Versand von Büchern mit jeweils 4 gekürzten Fassungen. Natürlich habe ich diese Bücher (also die gekürzten Fassungen) verschlungen. Erna Bombeck kreuzte so meinen Weg, Arno Surminski, Kishon – Namen, die mir damals wenig sagten. Auch Kultur war jetzt stärker ein Thema. Meine Eltern hatten gemeinsam eine elektronische Orgel gebaut und meine Mutter wollte Unterricht nehmen. Ich bettelte und flehte, daß ich auch Orgelstunden nehmen wollte. Meine Mutter (sie war diejenige, die bei uns für alles rund um „Bildung“ die zuständige Ansprechpartnerin war) glaubte zwar nicht an mein Durchhaltevermögen aber sie gab nach. Am Anfang lernten wir (in unterschiedlichen Kursen) noch halbwegs gleich schnell. Aber ich überholte sie bald, stürmte durch die ersten vier „Lehrbücher“ und entdeckte meine Liebe zur klassischen Musik.

Meine Mutter unterstützte das alles sehr bereitwillig. Sie hat mir – als ich endlich von dem Geld das mir zur Konfirmation geschenkt worden war einen Plattenspieler kaufen konnte – die erste Schallplatte mit Musik von Mozart geschenkt. Es war wunderschön. Viel später erst fand ich heraus, daß meine Mutter Operetten liebte und sogar ein paar sehr alte Schallplatten von Operetten besaß (gemeinsam mit meinem Vater natürlich).

Was immer da war …..
Meine Mutter hat Menschen mit einer großen Allgemeinbildung immer sehr geschätzt und bewundert. Ihre Heimleiterin aus dem Mädchenheim war in dieser Hinsicht sicher ein großes Vorbild, viele andere Menschen, die sie entsprechend geprägt haben, sind mir nie begegnet. Von daher hat sie mich immer unterstützt, wenn es um Bildung ging – oft unter großem persönlichen Verzicht (was ich damals gar nicht sehen konnte). Sie war immer diejenige, die (solange meine Eltern noch zusammen waren) meine „Bildungsanliegen“ bei meinem Vater vertreten und „durchgesetzt“ hat. Dafür bin ich ihr immer noch dankbar.
Schreibmaschinenkurs? Klar.
Kirchenorgel in der Musikschule lernen? Klar. Sie hat mich sogar beim Üben in die kalte Kirche begleitet und etwas später ohne Murren gleichzeitig die weltliche Musikschule und die kirchliche „Ausbildung“ finanziell mitgetragen.
Sprachkurs in England? Selbstverständlich.
Bücher für Schule oder Studium? Immer.

Was nicht da war?
Ich habe erst viele Jahre beziehungsweise Jahrzehnte später „gemerkt“, was nicht da war. Das, was ich jetzt schreibe, ist nicht als Vorwurf an meine Eltern gedacht, sondern als Feststellung der Unterschiede zwischen „bildungsbürgerlichen“ oder akademisch geprägten Familien und meinem Hintergrund.

– Bücher und Wissen über Bücher: wenn ich mir konkret Bücher gewünscht habe, dann habe ich die auch (zum nächsten Anlaß) bekommen. Aber es gab keine Vorschläge, kein „Du könntest mal ….. lesen“. Ich habe mich ab dem 12. Lebensjahr durch die kleine Bibliothek meiner Kirchengemeinde „gefräst“ – auch da natürlich unsystematisch. Ich habe dort immer direkt nach den Öffnungszeiten der ehrenamtlich betriebenen kleinen Bibliothek Orgel geübt und so habe ich immer vor dem Üben die schon gelesenen Bücher zurückgebracht und neue ausgeliehen. Perfektes Timing sozusagen. Ich habe immer viel gelesen, aber halt nie „systematisch“ und auch nicht unbedingt die „Klassiker“. Kästner ist mir zum Beispiel (außerhalb kurzer Textausschnitte in Schulbüchern) nie begegnet, daß hinter „Heidi“ ein Buch steckt, habe ich auch erst ziemlich spät erfahren ….. Viele mir heute liebe Autorinnen und Autoren habe ich durch kleine Ausschnitte in Schulbüchern, Schullektüre oder auch Empfehlungen von einigen wenigen interessierten Lehrern entdeckt.

– Zeitungen und Zeitschriften: wir hatten keine Zeitungs- oder Zeitschriftenabos. Gegelegentlich durfte ich mir mal eine Kinderzeitschrift kaufen, von einer Freundin meiner Mutter bekam ich gelegentlich mal eine Zeitschrift (zum Beispiel die Bravo) geschenkt, aber ansonsten sah ich in dem Bereich wenig. Es gab eine (günstige) Fernsehzeitschrift (das war damals schließlich noch wichtig) und meine Mutter hat relativ häufig die Bild-Zeitung gelesen – vor allem, weil sie sehr fußballbegeistert war und sich für den Teil besonders interessiert hat. In der 9. oder 10. Klasse mußten wir für den Englischkurs ein Newsweek-Abo abschließen (ich habe noch „jahrzehntelang“ Werbung bekommen), später habe ich dann auch angefangen den Spiegel zu lesen. Das hat natürlich Einfluß auf

– Sprache: meine Eltern haben beide sehr auf Sprache geachtet. Schimpfwörter und Fäkalbezeichnungen waren verpönt. Aber gleichzeitig muß man auch ganz ehrlich sagen, daß meiner Mutter viele Fremdwörter einfach völlig unbekannt waren. Es ist sehr einfach Fremdwörter beziehungsweise ihren Inhalt zu verstehen oder abzuleiten, wenn man irgendwelche Fremdsprachen gelernt hat. Für Menschen ohne dieses Wissen ist jedes Fremdwort irgendwie ein Hindernis. Es gab einen Duden und zunächst ein altes, später dann ein moderneres 20-bändiges Lexikon. Dadurch habe ich viel gelernt. Worte und Begriffe, die ich nicht kannte habe ich dort oft nachgeschaut, Verweise verfolgt – sozusagen das, was man heute als „Serendipity“ bezeichnen würde.
Was ich übrigens unangenehm fand: daß es Lehrer/Lehrerinnen gab, die sich nach den Elternsprechtagen über die Mütter lustig gemacht haben. Ich erinnere mich noch sehr gut, daß ein Deutschlehrer vor der Klasse darüber witzelte, daß eine Mutter „Pubertät“ falsch ausgesprochen hatte. Ich weiß nicht, ob es meine Mutter war – das ist aber auch nicht wichtig. Ich fand es nur unglaublich daneben und gar nicht witzig, daß er das vor der ganzen Klasse als „Anekdote“ erzählte.

– Unsicherheit bei Schreiben/Briefen: da, wo man sich nicht hundertprozentig „sicher“ fühlt, ist man unsicher. Bei meiner Mutter waren das vor allem alle schriftlichen Angelegenheiten. Ihre privaten „Briefe“ oder Glückwunschkarte waren immer ziemlich kurz. Die meisten Sätze waren sogar so kurz, daß ja kein Komma vorkommen konnte. Solange meine Eltern zusammen waren, hat mein Vater alle schriftlichen Angelegenheiten gut erledigt, danach habe ich nach und nach diesen Part übernommen. Nach vielen Jahren und Jahrzehnten kann ich für mich sagen, daß ich bei Schreiben/Briefen in der Sprachwahl nicht mehr unsicher bin, was ich – leider – von meiner Mutter übernommen habe ist die Unsicherheit bei der Kommasetzung ……

– Fremdsprachen: meine Mutter hat in der Schule eine kurze Zeit lang Russisch gelernt, leider mit völlig falscher Aussprache, was wir auch erst bemerkt haben als ich in Belgien einen Russischkurs belegt habe. Mein Vater hatte etwas Englisch gelernt – zum Umfang seiner Englischkenntnisse kann ich jedoch wenig sagen. Ich mochte von Anfang an den Fremdsprachenunterricht und habe alle drei Möglichkeiten mitgenommen, die sich mir boten – Englisch ab der 5. Klasse, Französisch ab der 7. Klasse und Latein ab der 9. Klasse. Damals habe ich Latein gewählt, weil ich schon vorhatte Jura zu studieren. Erst später habe ich gemerkt, daß dies gleichzeitig ein offenes Tor zu den romanischen Sprachen ist. Fremdsprachen waren jedoch sehr lange eine eher „schulische“ Angelegenheit. Klar, es gab das englischsprachige Radio (BFBS) – sehr schwer zu verstehen, es gab englischsprachige Liedtexte (gesungen noch schwerer zu verstehen als die Radiomoderation), ansonsten gab es nichts. 1984 durfte ich einen Sprachkurs in Brighton machen – mein erster wirklich „lebendiger“ Kontakt mit einer Fremdsprache. Und auch die erste Chance ein paar echte englischsprachige Bücher zu kaufen. Ich war dort sogar im Theater (obwohl ich von dem Stück „The Importance of being Earnest“ wenig verstanden habe). Fremdsprachen zu sprechen oder zu verstehen gehörte zu meinem Leben lange nicht dazu – einfach auch, weil wir alle keine Fremdsprache sprachen und Reisen ins Ausland viel zu weit und zu teuer waren.

– Kulturelle Veranstaltungen: ich weiß, daß meine Mutter relativ früh mit mir im Theater in einem Kinderstück war. Sie war damals sehr begeistert, ich (wir saßen in der ersten Reihe) hatte vor allem Angst, weil alles sehr laut war. Neben diesem Stück kann ich mich nur noch an eine Aufführung im Rahmen eines Schwimmvereins erinnern – irgendetwas mit Schwänen, ansonsten kamen dann irgendwann seltene Schulausflüge ins Theater und etwas später Operettenbesuche mit meinen Eltern am Silvesterabend – sozusagen als Highlight des Jahres. Theater war dann etwas Besonderes, aber nichts, was regelmäßig stattfand. Auch Kino war eher selten – ich kann mich daran erinnern, daß ich mit meiner Mutter zusammen ET gesehen habe, später auch „Das Boot“. Sicher waren da noch ein paar andere Filme, aber sehr viele waren es nicht. Bei Konzerten denke ich an die Kurkonzerte in den Urlaubsorten, in denen wir ab 1979 waren. Da waren schöne klassische Stücke dabei und es ist toll, daß es diese Tradition gab und gibt. Irgendwann hat mich auch die (ehemalige) Heimleiterin meiner Mutter in ein Orgelkonzert mitgenommen – eine sehr liebevolle Art der Förderung!
Mein Vater mochte Burgen und Schlösser und war durchaus geschichtlich interessiert. Deshalb habe ich die eine oder andere Burg besichtigen können (liebe ich noch immer!) und auch in Kärnten römische Ausgrabungen gesehen. In Kunstausstellungen waren wir während meiner Kindheit aber nicht, Kunst – insbesondere moderne Kunst – war auch nie ein (positives) Gesprächsthema.

Was daraus folgt….
Ich habe einen langen Lern- und Leseweg hinter mir – mit durchaus beachtlichen Ergebnissen. Ich hatte immer relativ gute Schulnoten, habe das Abitur gemacht, Jura studiert, Zeit während des Studiums und während des Referendariats im Ausland verbracht. Ich habe eine kirchenmusikalische Ausbildung, Kenntnisse in mehreren Fremdsprachen und ein sehr sehr volles Bücherregal (mit immer noch vielen ungelesenen Büchern). Aber ich habe auch Lücken – viele und sehr große Lücken. Ich habe sehr viele „Standardbücher“ nicht gelesen, ich kenne selbst im Bereich der klassischen Musik viele Werke und Komponisten nicht. Zur Oper habe ich nie einen Zugang gefunden, dafür um so mehr zum Theater. Ich besuche gerne Museen und Ausstellungen, bei manchen Veranstaltungen (gerade in kleineren Galerien) tue ich mich aber sehr schwer – da bin ich einfach unsicher, weil ich oft nicht weiß, wie ich mich verhalten soll. Was macht man (oder eben nicht), wenn man in einer kleinen Galerie eine Vernissage oder eine Finissage besucht? Ja, ich habe mich oft überwunden, Dinge auszuprobieren – in allen Bereichen und immer wieder. Aber diese Unsicherheit bleibt und wird mich sicher bis an mein Lebensende begleiten. Auch Smalltalk ist in manchen Situationen für mich schwierig, ich halte mich oft zurück, weil ich nicht weiß, ob das, was ich sagen möchte, wirklich paßt und der Situation angemessen ist.

Fühle ich mich benachteiligt?
Es fällt mir schwer, diese Frage zu beantworten. Ich habe immer die Chancen gesehen und diese Chancen sehr weitgehend aufgegriffen und für mich verwertet. Gleichzeitig merke ich jetzt, daß ich mir vieles, das für andere „normal“ ist, erst zeitintensiv aneignen mußte. Ich bin dankbar, daß ich durch meine Eltern – insbesondere durch meine Mutter – so viel Unterstützung hatte und daß ich auch zu einer Zeit die Schule besucht und studiert habe, als es noch ziemlich problemlos gute (vor allem gut bezahlte) Nebenjobs gab. Mit dem Geben von Nachhilfestunden und meinem Kirchenorganistenjob konnte ich mir viele meiner Träume erfüllen – Bücher, Museums- und Ausstellungsbesuche, Studium im Ausland, Reisen, Theater. Ich habe sozusagen die Welt der Bildung und Kultur „erobert“. Manches wäre einfacher gewesen, wenn mehr Menschen mich durch gute Vorschläge und Hinweise – zum Beispiel zu Büchern, zu Autorinnen und Autoren, musikalischen Werken – unterstützt hätten. Man merkt die Lücken einfach erst sehr viel später. Aber im Vergleich zu anderen bin ich dankbar, daß ich diese Möglichkeiten hatte und ergreifen konnte und in manchen Momenten bin ich auch ganz kurz ein kleines bißchen stolz, daß ich diese Möglichkeiten tatsächlich ergriffen habe.

Vor 30 Jahren…..

Vor ein paar Tagen war ich in Berlin in der Open-Air-Ausstellung im Innenhof der Stasi-Zentrale. Ein Zufall, wie so vieles in meinem Leben. Es war ein schöner sonniger Herbsttag, ich wollte etwas „Kulturelles“ machen, nachdem ich am Morgen in der Lesung des 24h-Theaters war. Während der Fahrt mit der Straßenbahn hatte ich die Prospekte von der Tourismusinformation im Hauptbahnhof durchgeschaut und diese Ausstellung entdeckt. Warum also nicht? Ein Kunstmuseum könnte ich ja immer noch besuchen.

Ich verbrachte über drei Stunden im Innenhof. Ich habe in aller Ruhe die ganzen Hinweise gelesen, viele Zeitzeugenberichte angehört und auch einige Gedanken getwittert. Wer mag kann meine Tweets hier nachlesen.

Es waren sehr interessante und bewegende drei Stunden, die ich dort verbracht habe. Interessant vor allem deshalb, weil ich feststellen konnte, daß mir viele Informationen fehlten – und das obwohl ich mich immer für das Thema „Ostdeutschland“ interessiert habe. Diese fehlenden Informationen haben mich nachdenklich gemacht. Ein Beispiel? In meiner Erinnerung war die Zeit 1989 vor allem mit den Leipziger Montagsdemonstrationen verbunden. Als ich vor einigen Jahren in Leipzig war, habe ich mit großem Interesse die Nikolaikirche besucht und sogar einen Roman dazu gekauft („Nikolaikirche“ von Erich Loest). Ich erinnere mich an die vielen Menschen in Ungarn und in der Prager Botschaft, an Genschers Worte auf dem Balkon der Prager Botschaft und an die Züge, die dann von Prag nach Westdeutschland fuhren.
Woran ich mich nicht erinnern konnte: an die vielen mutigen Aktionen der Menschen in Berlin in der Zionskirche und der Gethsemanekirche, an die Demonstrationen im Oktober. Mein Bild war und ist also in keiner Weise „vollständig“.

Nach der Ausstellung bin ich zum Prenzlauer Berg gefahren (weil das ohnehin nicht weit von der Brotfabrik entfernt ist, wo ich am Abend zum Aufführung des 24h-Theaters sein wollte). Ich bin die Stargarder Straße entlanggelaufen und habe mir vorgestellt, wie vor 30 Jahren in den Fenstern Kerzen leuchteten – als Zeichen der Solidarität. Ich bin vor der Gethsemanekirche stehengeblieben und habe die Plakate und Hinweise gelesen, mit denen sich die Gemeinde heute gegen das Unrecht an vielen Orten der Welt engagiert. Und ich habe mich gefragt, was ich eigentlich wirklich vom Osten weiß – also über das hinaus, was ich selbst im Laufe der Jahre bei den jährlichen Besuchen bei meinen Verwandten erlebt habe.

Am nächsten Tag sollte es eigentlich regnen. Als ich mein Gepäck am Hauptbahnhof eingeschlossen hatte wurde das Wetter jedoch besser. Ich verließ den Hauptbahnhof in Richtung Invalidenstraße, um ein bißchen herumzuschlendern bevor ich (ja, guter Versuch….) doch noch in ein Kunstmuseum gehen wollte. Auf meinem Weg erspähte ich auf der linken Seite plötzlich einen schönen Weg an einem Kanal entlang und ein kleines Schild. Ich wollte wissen, was das für ein Weg ist…. Es war der Mauerweg. Natürlich ist mir der Mauerweg in den letzten Jahren schon oft in Berlin „begegnet“, aber ich bin ihm nie bewußt gefolgt. Aber an diesem Sonntag. Der Weg führte an einem Ministerium vorbei zum Invalidenfriedhof, dann über ein paar kleinere Straßen zu einer Straße, an der ich vier alte Friedhöfe fand. Auf dem zweiten Friedhof entdeckte ich ein kleines Schild mit den Öffnungszeiten der Fontane-Dauerausstellung. Ich war etwas überrascht. Was um Himmels Willen macht eine Fontane-Ausstellung auf einem Friedhof? Und was macht diese Anekdote in einem Blogbeitrag über das Jahr 1989? Ich war trotzdem neugierig (ich bin fast immer neugierig ….) und ging an dem Schild vorbei auf den eigentlichen Friedhof. Ich hatte – ohne es zu wollen – den Friedhof entdeckt, auf dem sich das Grabmal von Theodor Fontane befindet. (Auch darüber habe ich natürlich getwittert – hier). Ein älteres Paar hatte kurz nach mir den Friedhof betreten und war zielsicher zum Grab von Fontante gegangen, während ich erst einmal einen Blick auf die kleine Kapelle mit der (geschlossenen) Dauerausstellung warf. Als auch ich zum Grab ging (wenn man schon mal da ist ….) kamen wir ins Gespräch. Er war Germanist, Deutschlehrer und großer Fontane-Liebhaber. Natürlich war er enttäuscht, daß ich mit Fontane nichts anfangen kann und das obwohl ich ja – wie ich mitteilte – viel und gerne lese. Die nächste Frage traf mich allerdings ganz unvermittelt: welche Werke von Menschen aus Ostdeutschland ich denn gelesen hätte? Treffer! Er nannte mir Sarah Kirsch und Günter Kunert als Beispiele. Es war dieser Teil der Unterhaltung, der eigentlich am meisten nachhallte, denn er bringt ja die Frage mit sich: inwieweit bin ich offen für die „Dinge“ und „Werke“, die für Menschen in Ostdeutschland wichtig und prägend waren und sind? Inwieweit bin ich bereit, andere Perspektiven wahrzunehmen? Inwieweit braucht Verständigung auch ein Kennen und Mögen dieser unterschiedlichen Erlebnisse und Perspektiven?

Es war gut, daß der Mauerweg mir diesen Denkanstoß gegeben hat. Zwischenzeitlich wurde ich auch schon mit ein paar guten Hinweisen zu Autorinnen und Autorinen, die ich unbedingt lesen sollte, versorgt – danke an @finenschnabel, die mir auch ein paar persönliche Erlebnisse aus dieser Zeit geschildert hat.
In einem gewissen Sinn ist es eigentlich unwichtig, wo ich vor 30 Jahren war – viel wichtiger ist, wo ich mich jetzt gedanklich befinde. Das war meine spannende Erkenntnis von diesem Wochenende.

Und die Ausstellungen in der Stasi-Zentrale kann ich wirklich empfehlen!
Und eigentlich wollte ich etwas ganz anderes schreiben, aber das bleibt dann einem anderen Blogbeitrag vorbehalten.

Fairer Umgang miteinander?

Vor ein paar Tagen hat Arno Peper bei Twitter den Hashtag #fairerUmgangmiteinander ins Leben gerufen. Es geht ihm dabei darum, der Verrohung der Sprache etwas entgegenzusetzen und damit auch zu verhindern, daß immer mehr Menschen Twitter verlassen oder sich zurückziehen.
Grundsätzlich finde ich die Idee gut. Gleichzeitig sehe ich für mich einige Herausforderungen, die ich in einem Tweet auch schon erwähnt habe, hier aber etwas genauer „beleuchten“ möchte.

1. Verrohung der Sprache
Sprache ist für mich – nicht nur bei Twitter – ein sehr wichtiges Kriterium. Ich glaube nicht, daß man Schimpfwörter oder „beleidigende Bezeichnungen“ (ich meine das nicht im strafrechtlichen Sinne) braucht, um miteinander zu sprechen oder zu diskutieren. Ein gutes Gespräch kann und muß ohne solche Begriffe auskommen. Gleichzeitig merke ich vermehrt, daß bei Twitter eine Art von Sprache Einzug hält, sozusagen salonfähig wird, die ich für mich nicht mag. Nein, diese Sprache ist nicht verboten und ich möchte auch nichts verbieten. Definitiv nicht. Aber es macht mir keinen Spaß, Unterhaltungen zu verfolgen oder daran teilzunehmen, in denen Menschen sich gegenseitig aufgrund abweichender Einstellungen als Dummköpfe, Denunzianten etc. bezeichnen (und das sind jetzt völlig harmlose Beispiele). Da bin ich einfach am falschen Ort. Ich habe schon sehr frühzeitig angefangen, nur Menschen zu folgen, die solche Begriffe – in der Regel – nicht verwenden und ich bin heute sehr dankbar dafür. Trotzdem merke ich auch in meiner Timeline den Trend zu einer Verrohung.

2. Etwas dagegen tun?
Ja und nein, also ein deutliches „jein“. Ich selber achte sehr darauf, auch in Momenten starker emotionaler Betroffenheit keine Schimpfwörter/beleidigenden oder abwertenden Bezeichnungen zu nutzen (auch wenn es in mir drin manchmal brodelt). Nichts wird besser, wenn ich auf meine eigenen sprachlichen Ansprüche verzichte, im Gegenteil – das „Gespräch“ würde vermutlich noch stärker aus dem Ruder laufen und ich würde mich hinterher selbst verachten. Nein, Verrohung meiner Sprache ist für mich kein Gegenmittel.
Meist führe ich Gespräche, die solche Begriffe enthalten nicht weiter oder gehe zumindest darauf nicht ein. Es macht keinen Sinn, einen sprachlichen Abgrund noch zu vertiefen. Da wo ein gemeinsames Gespräch eben nicht möglich ist, würde jedes weitere Wort alles nur verschlimmern. Ich denke hier sofort an die Stufen der Konflikteskalation nach Friedrich Glasl – „gemeinsam in den Abgrund“ ist die letzte Stufe der Eskalation, die bei Twitter in der Regel das ein- oder gegenseitige Blocken ist. Kommunikation ist dann nicht mehr möglich, eine „Konfliktlösung“ auch nicht.
Eigentlich wäre es spannend, sich Twittergespräche mal unter der Maßgabe dieser Konflikteskalationsstufen anzuschauen…….

Eingreifen in Gespräche anderer? Eher nein. Das wäre so etwas wie die Stufe 4 von Glasl – Koalitionen. Man ist in dem Moment zumindest für einen der Gesprächspartner nicht neutral. Wenn ich also einem Twitterer „vorwerfe“, daß er/sie eine unangemessene Sprache verwendet, dann verstärke ich vermutlich den Konflikt. Gleichzeitig fühlt es sich oft schlecht an, wenn Menschen „angegriffen“ werden, deren Meinungen/Tweets man schätzt.

Den Hashtag #fairerUmgangmiteinander verbreiten? Einerseits finde ich den Gedanken dahinter gut, andererseits stehe ich ungern für etwas ein, das ich inhaltlich nicht erklären/definieren kann und was – weil auf Twitter angelegt – flüchtig ist. Für mich hat der Hashtag drei Herausforderungen, die ich im folgenden ansprechen möchte.

3. Die Flüchtigkeit von Tweets
Tweets sind flüchtig. Das ist durchaus gut so, denn sie haben für mich in der Regel den Charakter von momentbezogenen Äußerungen oder Gesprächen. Es ist nicht wirklich wichtig, zu „bewahren“, was ich vor ein paar Tagen zu irgendjemand im Supermarkt oder im Bus gesagt habe. Twitter ist für mich vergleichbar. Deswegen ist für mich eine Initiative, die sich ganz klar auf Twitter beschränkt, von vornherein beschränkt. Ich kann nur begrenzt nachlesen, was sie ausmacht, wer dazu gehört, wer was darunter versteht. Meines Erachtens würde eine Verstetigung/Verbreitung der Initiative einen festen Ausgangspunkt außerhalb von Twitter brauchen, auf den in Tweet auch verlinkt werden könnte. Aber das ist meine persönliche Meinung.

4. Was ist eigentlich fair?
Das ist für mich der schwierigste Teil – was ist eigentlich „fair“? Wikipedia definiert „fair“ beziehungsweise „Fairness“ wie folgt: „Fairness geht als Begriff auf das englische Wort „fair“ („anständig“, „ordentlich“) zurück. Fairness drückt eine (nicht gesetzlich geregelte) Vorstellung von Gerechtigkeit aus. Fairness lässt sich im Deutschen mit akzeptierter Gerechtigkeit und Angemessenheit oder mit Anständigkeit gleichsetzen.“

Alles klar, oder?
Vermutlich hat fast jeder Mensch einen eigenen Begriff von dem, was er/sie als fair, anständig beziehungsweise gerecht empfindet. Oftmals empfinden wir Dinge, die wir selber machen/aussprechen als anständig und gerecht (weil: es ist ja so!), Dinge, die andere machen/aussprechen aber nicht (weil: der-/diejenige hätte mich ja mal vorher fragen können).

Letzlich ist hier wohl die goldene Regel „was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg auch keinem anderen zu“. Für mich persönlich haben sich im Laufe der Zeit (und durchaus beeinflußt durch die Mediationsausbildung in der Zeit von 2010 bis 2012) einige Punkte ergeben, die ich bei Gesprächen/Kontakten für mich versuche zu beachten – versuchen deshalb, weil Menschen immer Fehler machen und ich auch oft erst später merke, daß ich meine eigenen Prinzipien nicht beachtet habe.

5. Grundsätzliche Prinzipien
Damit ich „fair“ kommunizieren kann, muß ich für mich einige Grundbedingungen oder Prinzipien einhalten. Wenn ich selber diese Grundbedingungen oder Prinzipien einhalte, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß ein Gespräch auch über schwierigere Themen möglich ist. Natürlich kann es trotzdem schieflaufen – denn schließlich führe ich das Gespräch nicht alleine. Mein Gesprächsanteil kann daher positiv oder negativ sein – trotzdem kann das Gespräch „kippen“ und dann bleibt manchmal nur die Möglichkeit für eine gewisse Zeit Gesprächen mit dem/der Gesprächspartner/in aus dem Weg zu gehen, den-/diejenige stummzuschalten, zu entfolgen und/oder zu blockieren. Das eigene Wohlbefinden ist an der Stelle wichtiger als das Wohlbefinden der anderen Gesprächsbeteiligten!

* Wem folge ich und worauf antworte ich?
Menschen äußern auf Twitter ihre Gedanken und Ansichten. Wenn mir die Äußerungen von vornherein nicht gefallen, dann gibt es keinen Grund diesen Menschen zu folgen oder ein Gespräch zu beginnen. Ja, gelegentlich tappe ich auch in die Falle mit dem Gespräch ….. Aber so ganz grundsätzlich als Beispiel: ich mag keine Schokolade (wirklich!!). Gestern oder heute las ich in einem Tweet, daß „ein Leben ohne Schokolade möglich aber sinnlos ist“. Welchen Wert hätte es zu antworten, daß ich Schokolade nicht mag? Es sind oft diese „Du bist dumm/blöd/…., weil Du das magst/oder nicht magst“-Kommentare, die verletzen können. Ich habe das bei eigenen Tweets im Frühjahr oft erlebt. Ja, die Antworten sind oft sogar gut gemeint, aber ich fand sie nicht hilfreich, weil sie meine Ansicht zu einem bestimmten Punkt grundlos in Frage stellen und mir das Gefühl geben, „Deine Ansicht ist nicht in Ordnung“. Doch! Wenn jemand eine Ansicht hat, dann kann ich gegebenenfalls fragen, warum er/sie diese Ansicht hat, aber ich muß doch nicht widersprechen. Damit kommen wir zum nächsten Punkt.

* Fragen stellen
Tweets sind relativ kurze Texte. Manchmal macht man sich über irgendwelche Dinge lange Gedanken, formuliert Sätze im Kopf hin und her und schreibt dann einen Tweet. Dieser Denkvorgang ist im Tweet in der Regel nicht sichtbar. Das, was für mich klar und positiv ist, kann für andere falsch klingen. Statt nachzufragen, wie etwas gemeint ist, kommt dann oft ein Kommentar/eine „gut gemeinte Empfehlung“, die zum Thema/zum Gedanken überhaupt nicht paßt.
Das paßt übrigens auch zur Diskussion um den dpa-Tweet zum Interview mit Carsten Linnemann. Die dpa hat einen Gedanken bewußt überspitzt und damit eine „Diskussion“ (ok, einen „Shitstorm“) nur auf Basis dieser Überschrift losgelöst. Ich habe die Entwicklung der Diskussion voller Spannung verfolgt – auch weil sie das Anspringen auf bestimmte Begriffe (unabhängig von meiner inhaltlichen Ansicht) hervorragend zeigt. Toll fand ich übrigens, daß die dpa die Überschrift korrigiert und das auch getwittert hat. Was an der Diskussion bezeichnend war: kaum jemand hat den Text gelesen oder noch einmal gefragt, hat er wirklich „Grundschulverbot“ gesagt, die meisten haben den Begriff als „so ist es“ angenommen und nur auf diesen Begriff reagiert. Damit kommen wir zum nächsten Punkt.

* Verlinkte Inhalte lesen und nicht nur auf die Überschrift/Stichworte reagieren
Ich retweete in der Regel keine Texte, die ich nicht selbst gelesen habe (Ausnahmen bei besonders vertrauenswürdigen Twitterern!). Das was für den Retweet gilt sollte auch für das Gespräch über ein Thema gelten. Ein Teil unserer kommunikativen Probleme hängt für mich damit zusammen, daß wir Worte/Begriffe aus dem Zusammenhang reißen, uns über unsere Vorstellungen von dem Gemeinten empören – ohne zu fragen „hast Du das so gemeint, wie ich das gerade verstehe“ und damit gelegentlich eine „Empörungswelle“ lostreten, die sich nicht mehr aufhalten läßt. Das zusätzlich schwierige: man kann in diesem Moment praktisch nicht mehr deeskalierend eingreifen.

* Trennung von Person und Sache
Es ist für mich ein Riesenunterschied, ob jemand sagt „Du bist dumm“ oder „Deine Ansicht zum Thema X ist dumm“ (wobei ich auch disese Formulierung persönlich vermeide, bei mir ist es dann im schlimmsten Fall eher „unsinnig“). Ja, auch ich kann mich irren und Gespräche können durchaus dazu führen, daß ich über etwas nachdenke, nach „Beweisen“ suche oder nach der Begründung des Gesprächspartners für die von ihm/ihr geäußrte Ansicht frage. Kein Mensch kann alles wissen. Menschen können sich informieren, sie können lernen – dafür muß ich dem anderen Menschen aber diese Fähigkeit zugestehen. Wenn ich einzelne Punkte/Themen „kritisiere“ fühlt sich das anders an, als wenn ich den Menschen an sich abwerte.
Der zweite wichtige Punkt: auch Menschen, die ich persönlich schätze, müssen nicht in allen Punkten meiner Meinung sein. Gespräche wären langweilig, wenn alle immer dasselbe denken und gut finden würden. Kreativität und Innovation brauchen eine gewisse Reibung. Was ich bei Twitter immer wieder erlebe und problematisch finde: „wenn Du in dem Punkt nicht unserer Ansicht bist, dann gehörst Du nicht zu uns“, also eine Spaltung in „für uns oder gegen uns“. Das macht vieles schwierig – gerade für mich persönlich!

* Dem anderen zubilligen, daß er/sie einen guten Grund für sein/ihr Handeln/Äußerungen hat
Das war eine der schwierigsten „Lektionen“ in der Mediationsausbildung. Ich weiß noch, daß wir an dem Samstag nach dem Kurs zu mehreren essen waren und etwas ratlos über diese Frage diskutiert haben. Unser Diskussionbeispiel damals war (wenn ich mich richtig erinnere) ein Überfall auf eine Apotheke, bei der ein Vater ein Medikament für sein krankes Kind haben möchte. Aus Sicht des Vaters ein „guter Grund“ – er möchte, daß das Kind gesund wird. Aus meiner Sicht (und aus Sicht der Apotheke, der Richter etc.) kein guter Grund. Was wir damals herausgearbeitet haben: ich muß den Grund kennen, um das Handeln/die Äußerungen von anderen Menschen zu verstehen – wobei „verstehen“ nicht „akzeptieren“ oder „gut finden“ meint. Wenn man Menschen auf Twitter länger folgt, dann kann man manche Äußerungen aufgrund ihrer Erfahrungen nachvollziehen. Da wo man es nicht kann hat man eigentlich zwei Möglichkeiten: schweigen oder fragen („warum ist Dir das wichtig?/warum machst Du das?“).
Ich persönlich glaube, daß es ein Teil unserer heutigen Probleme ist, daß wir „am Anfang“ nie gefragt haben, warum Menschen sich für bestimmte Ideen begeistern oder warum sie Angst haben. Wir haben immer nur gesagt, daß das „dumm“ ist. Mir hilft es bei vielen Äußerungen mir deutlich zu machen, daß der/die andere einen „guten Grund“ für seine Äußerungen hat, auch wenn dieser Grund für mich kein „guter Grund“ ist.

* Umgang mit Emotionen
Ich habe lange gedacht, daß es hilft, sachlich miteinander umzugehen. Das ist aber kein Schlüssel für „erfolgreiche“ beziehungsweise „gute“ Kommunikation. Es gibt immer Themen, bei denen wir emotional betroffen sind – weil wir Erfahrungen mit dem Thema gemacht haben, weil wir oder Menschen aus unserem Umfeld davon betroffen sind. Ich habe gerade durch Twitter viel über Menschen und ihre Erfahrungen gelernt – fehlende Inklusion, Umgang mit Rassismus zum Beispiel – alles Dinge, die ich persönlich so nie erlebt habe. Ich bin dankbar, daß ich solche Erfahrungen nie machen mußte (ich habe dafür andere Erfahrungen gemacht, die auch nicht alle schön sind). Es ist oft die Emotionalität dieser Äußerungen, die mir das Ausmaß der Qual oder der Angst deutlich macht. Ich möchte diese Tweets nicht missen – nicht weil ich schlechte Erfahrungen von Menschen schön finde, sondern weil ich Dinge und Äußerungen für mich kritisch hinterfragen kann.
Für mich habe ich folgenden Umgang gefunden: wenn Menschen etwas Schöne erleben und davon schreiben, dann freue ich mich mit ihnen, manchen schreibe ich das auch unter den Tweet. Wenn Menschen schlimmes erleben, dann lese ich das, meistens kommentiere ich aber nicht (Ausnahme: Krankheiten/Todesfälle im engeren Twitterumfeld).

* Umgang mit Sprache
Ich selber nutze auf Twitter (und auch sonst) keine Schimpfwörter. Die inflationäre Nutzung von abwertenden Begriffen lehne ich für mich ab und ich zucke auch oft, wenn ich sie in Tweets von anderen sehe. Letztlich kann ich gute Gespräche nur dann führen, wenn ich gute Sprache nutze, zuhöre und mich mit etwaigen Argumenten inhatlich auseinandersetze, nicht mit Abwertung. Eine persönliche Verletzung durch abwertende Begriffe macht ein Gespräch unmöglich. Für mich gehören ganz viele Begriffe dazu (angefangen bei „dumm“, „Dummkopf“ und „Idioten“ bis hin zu strafrechtlich relevanten Äußerungen).
Meine persönlichen Entscheidungen:
– ich fave/retweete keine Tweets, die für mich sprachlich nicht in Ordnung sind – selbst dann nicht, wenn ich den Grundgedanken teile
– ich folge Menschen nicht, in deren Tweets ich eine Vielzahl solcher Begriffe sehe

Ich hoffe, daß ich mit diesen Prinzipien zumindest sprachlich selten „unfair“ bin.

6. Und nun?
Arno Peper hat vorgeschlagen, Menschen auf unfaire Sprachnutzung hinzuweisen. Das finde ich schwierig, zumal die Frage, was ich empfinde ja nichts mit dem Empfinden der Gesprächspartner zu tun haben muß und es eben keine eindeutige Definition für „unfair“ gibt.

Was ich mir vorstellen könnte (hatte ich schon als Tweets geschrieben):
– eine Blogparade, um Ideen zu diesem Thema zu sammeln
– eine Art freiwillige Selbstverpflichtung zum fairen Umgang miteinander (so etwas wie die X Prinzipien des fairen Umgangs)
– selber mit dem Hashtag um fairen Umgang zu bitten, wenn ich mich in einem Gespräch „angegriffen“ fühle

Digitalisierung und Demokratie – wer treibt wen?

Letztes Wochenende war ich in Berlin auf der Telemedicus Sommerkonferenz – #soko19 – eine Konferenz, die ich schon seit einigen Jahren gerne besuche. Das Programm war – wie immer – spannend und sehr interdisziplär, wir haben in einigen Bereichen über den Tellerand geschaut.

Besonders begeistert hat mich die Keynote von Jeanette Hofmann, in der es um „Mediatisierte Demokratie – Experimente im digitalen Möglichkeitsraum“ ging. Ein paar der Notizen und Gedanken, die ich mir während dieser Keynote gemacht habe, möchte ich hier zusammenfassen.

Startfrage: Wie ist das Verhältnis von Digitalisierung und Demokratie?
Irgendwie stehen Demokratie und Digitalisierung in einem Verhältnis – die spannende Frage ist, wie dieses Verhältnis aussieht. Häufig liest oder hört man, daß die Digitalisierung der Treiber des Wandels ist. Aber: das dahintersteckende Bild ist etwas merkwürdig. Demokratie wäre dann statisch und würde sich nur aufgrund der Digitalisierung bewegen. Es wäre praktisch eine kausale Beziehung: weil die Digitaliserung antreibt, bewegt sich die Demokratie. Aber: kann das stimmen? Wohl kaum.

Braucht Demokratie ein Gemeinschaftsgefühl?
Spannend fand ich die Frage, ob beziehungsweise in welchem Ausmaß Demokratie ein Gemeinschaftsgefühl braucht. Ein Gemeinschaftsgefühl kann zum Beispiel mit der Nutzung von Medien zu tun haben. Wenn „alle“ die gleiche Zeitung lesen/die gleichen Fernsehnachrichten schauen, dann kann dadurch ein Gefühl von Gemeinschaft entstehen. Diese „mediale Gemeinschaft“ kenne ich noch aus meiner Schulzeit. Man sah die selben Fernsehsendungen, sprach über die selben „Ereignisse“. Heute empfinde ich das oft anders. Es scheint sehr viele kleine „Gemeinschaften“ zu geben, ein Medium, das alle vereint, ist aus meiner Sicht nicht ohne weiteres erkennbar. In dem Zusammenhang mußte ich an den Gedanken des „Lagerfeuers“ denken…..
Schön war in diesem Zusammenhang der Buchtipp: Imagined Communities von Benedict Anderson, in dem es interessanterweise auch um die Entstehung und Verbreitung von Nationalismus geht.

Demokratie in der Krise?
Ist die Demokratie dauerhaft in der Krise? Ist sie einfach eine fragile Herrschaftsform? Eine spannende Frage! Medienwandel, gesellschaftliche Entwicklungen und Demokratie hängen eng miteinander zusammen. Was aber verändert Demokratie oder unser Empfinden von Demokratie? Es gab immer Krisen in der Demokratie (die „alten“ Krisen habe ich leider nicht notiert….). Aktuell haben wir wohl eine „Repräsentationskrise“. Die Kontrolle durch die Öffentlichkeit ist wichtiger als das Wählen, Vertrauen in Politik und Politiker ist nicht mehr gerechtfertigt. Wenn man bedenkt, daß Demokratie durch das ausgemacht wird, was gemacht wird, dann kann man durchaus erkennen, daß Wahlen, Parteien und Parlamente abgewertet werden. Es besteht ein grundsätzliches Mißtrauen, Politikerinnen und Politiker werden abgestraft, einzelne Personen stehen im Vordergrund, die emotionale Bindung zu Parteien fehlt und Politik wird nicht mehr bestätigt wondern abgewählt.
Buchtipp:
Postdemokratie von Colin Crouch
Die Gegen-Demokratie von Pierre Ronsanvallon

Was wäre, wenn …..
… Digitalisierung kein Treiber, sondern ein Übungsfeld demokratischen Wandels wäre?
Durch die Digitalisierung treten einige tiefgreifende Veränderungen ein. Wir können das an einigen Punkten ganz gut sehen – Massenkommunikation, Verschwimmen der Grenzen zwischen öffentlich und privat sowie zwischen Produzenten und Konsumenten. Aber: wie wirken sich diese Änderung auf unser Verständnis von Öffentlichkeit aus?
Wie oben schon angesprochen fehlt uns der gemeinsame Bezugspunkt. Damit verlieren Parteien oft ihre bisherige Anknüpfung, sie werden eher zu Bewegungen, was man am Beispiel Beppe Grillo und Macron gut sehen kann. Gleichzeitig entstehen neue Kollektive und Netzwerke, die sich selbst organisieren und eher temporär bestehen. Fridays for Future ist ein solches Beispiel.Gerade an diesem Beispiel kann man durchaus erkennen, daß die Digitalisierung eben nicht Treiber sondern eher Übungsfeld des demokratischen Wandels ist.

Herausforderungen
Allerdings bleiben Herausforderungen:
– Wie gehen wir mit der Umstellung von Vertrauen auf Mißtrauen um? Welche Auswirkungen hat das auf uns und unsere Demokratie?
– Wie gehen wir mit der Pluralisierung und gleichzeitigen Fragmentierung von Öffentlichkeiten um?
– Wie gehen wir mit dem Niedergang der Parteien und den neuen/neu entstehenden Organisationsformen um?
– Wie wichtig ist/wäre ein nationales Gemeinschaftsgefühl?

Spannende Fragen, die ich mit dem einen oder anderen Buch sicher weiter verfolgen werde. Herzlichen Dank an Jeanette Hofmann und an die Organisatoren und Sponsoren der Telemedicus Sommerkonferenz für diese tolle Keynote!

Am 2. Juli vor 10 Jahren…..

…. habe ich den Twitteraccount @A_Christofori angelegt.

Die ersten Schritte
Meine allersten Schritte auf Twitter habe ich schon „ein paar Tage früher“ gemacht, mit dem damals eher lokal ausgerichteten Account @AChristofori. Kurz nach meinem damaligen Twitterstart starb Pina Bausch – für Wuppertal ein sehr einschneidendes Ereignis. Ich fand es faszinierend, wie schnell ich diese Information über Twitter mitbekommen konnte.
Dies war dann der Auslöser, meinen heutigen Hauptaccount @A_Christofori anzulegen.

Der erste Tweet
Mein allererster Tweet auf dem Account @A_Christofori war übrigens:
„Sommer, Sonne – weniger Termine und weniger Anrufe. Ein guter Zeitpunkt um mit Twitter zu starten! Willkommen auf meinem Account!“
Gefolgt von: „Nur wer sich zeigt wird auch gesehen. ich zeige mich jetzt also auf Twitter und bin gespannt auf das, was passieren wird!“
Ja, ich war gespannt und es ist jetzt ein guter Zeitpunkt, um die vergangenen 10 Jahre Revue passieren zu lassen.

Wie es sich entwickelt hat….
Lange Zeit habe ich Twitter eher passiv und lesend, also als eine Art Informationsquelle für mich, genutzt. Ich habe ein paar Tweets zu aus meiner Sicht beruflich relevanten Themen geschrieben, Interaktion gab es kaum. Das änderte sich ab 2012. Ich habe in dem Jahr das Livetwittern von Events für mich entdeckt. Ich habe von Konferenzen, Barcamps und anderen Veranstaltungen twitternd berichet. Es war einerseits eine Möglichkeit, meine Gedanken und Fragen „online“ festzuhalten, gleichzeitig erlaubte dies aber auch ein Gespräch mit den Menschen, die einer bestimmten Konferenz/Veranstaltung folgten. Es gab also einen doppelten Effekt: die „Liveveranstaltung“ an sich und das digitale Twittergespräch über die Veranstaltung beziehungsweise die von mir und anderen berichteten Inhalte. Durch diese Gespräche habe ich manche interessante Anregung oder Gegenfrage bekommen, aus dem einen oder anderen Gespräch wurden auch Twitterkontakte. Gleichzeitig überdeckte das Livetwittern und der damit verbundene digitale Austausch, daß ich vor Ort eigentlich selten ins Gespräch kam. Ich war dabei, ich störte nicht, aber meine Gespräche fanden fast nur online statt.

Twittern und Bloggen – auch über Twitter
Zeitgleich zu meiner aktiveren Twitternutzung habe ich angefangen, kleinere Beiträge zu bloggen – erst zu den besuchten Konferenzen und Barcamps, dann aber auch zu twitterspezifischen Fragestellungen – Begrüßungsnachrichten, ff, Twitter-Cocktailparty-Theorie, Vielfalt in der Twittertimeline, schlechten Tweets, Thesen zu Twitter und wie wir ins Gespräch kommen. Twitter hat mir dabei gleichzeitig die thematische Anregung als auch die Möglichkeit geliefert, auf meine Beiträge hinzuweisen. So war es absolut passend, daß ich 2015 eine Kategorie „Twittergespräche“ eingerichtet habe.
Erstaunlicherweise finde ich viele der Gedanken aus den Blogbeiträgen immer noch ziemlich aktuell……

Die Veränderungen
Denn sowohl Twitter als Plattform als auch ich haben uns verändert.
Bei Twitter wurden die Favsterne durch Herzchen ersetzt – etwas, das mich noch immer stört (Herzen haben in meinem Leben nichts zu suchen!), Funktionen, die ich mochte, wurden abgeschafft oder erschwert, die Anzahl der Zeichen erweitert.
Ich selbst wurde älter, habe mich mit Themen auseinandergesetzt, die nicht mainstream- und damit auch wenig twittertauglich sind und mußte letztendlich feststellen, daß meine Gespräche und Kontakte bestenfalls flüchtig sind.

Das herannahende Jubiläum habe ich daher auch genutzt, um einseitige und einseitig gewordene „Kontakte“ zu hinterfragen und teilweise zu löschen, auch einige DMs und meinen Anteil an einigen Threads habe ich gelöscht. Das war (und ist) ein wichtiger Nachdenk- und Reinigungsprozeß.

Krise und Fazit
Auch über meine allgemeine Situation habe ich nachgedacht – und fernab von Twitter ist das einfacher und sinnvoller. Die digitalen Gespräche haben lange überdeckt, daß ich im analogen Leben nur noch wenig Kontakte hatte und habe. Nach dem Tod meiner Mutter fiel mir das „auf die Füße“. Es trat eine Situation ein, wo ich völlig alleine dastand. 2018 war kein gutes Jahr und ich habe mich – aufgrund einer sehr persönlichen Verletzung – Anfang September erst einmal völlig zurückgezogen. Das Ausmaß der Veränderungen konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehen, ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich jetzt den völligen Überblick habe.
Gleichzeitig hat sich mein Erleben der Twitternutzung verändert. Vielleicht liegt es daran, daß ich in den letzten zwei Jahren zum Teil sehr viel persönlichere Dinge getwittert habe, vielleicht auch daran, daß mich manche Dinge stärker treffen als früher. Aber die guten Gespräche „von früher“ wurden und werden seltener, die „Replies from hell“ – also die Antworten, die man so gar nicht unter seinen Tweets haben möchte, nehmen zu. Liegt es an mir? Liegt es an den Menschen, denen ich folge beziehungsweise die mir folgen? Liegt es an den Themen? Ich weiß es nicht. Ich habe nur gemerkt, daß sich eine aktive Twitternutzung gerade völlig falsch anfühlt.

Waren es einfach 10 Jahre Selbstbetrug? Es ist ein Gedanke, der mir durchaus gelegentlich kommt – so wie ich mir auch gelegentlich die Frage stelle, ob ich glücklicher wäre, wenn ich mich nie angemeldet hätte. Beides Fragen, die sich im Nachhinein nicht beantworten lassen. Im Moment weiß ich nicht einmal, ob ich – über das Ankündigen von Blogbeiträgen hinaus – irgendwann wieder aktiv twittern möchte. Zum jetztigen Zeitpunkt fühlt es sich falsch an. Es ist ein bißchen so als ob Don Quixote gegen die Windmühlenflügel antwittern wollte. Es stört (fast) niemanden, mancher nimmt es staunend oder verächtlich zur Kenntnis, ein paar nicken und lächeln freundlich, aber es verändert nichts – weder für Don Quixote (beziehungsweise für mich) noch für die Windmühlenflügel (und schon hängt das Bild schief, denn wer oder was wären in meinem Beispiel jetzt die Windmühlenflügel?)…..

Ich werde mir jetzt ein Buch nehmen (vielleicht sogar mal den Don Quixote) und fernab von Twitter den Abend verbringen.

Die Bremer Stadtmusikanten…..

Vor knapp einer Woche war ich in Bremen – zur Museumsnacht aber auch um in Ruhe die Ausstellung „Tierischer Aufstand“ zum 200jährigen Jubiläum der Veröffentlichung dieses Märchens der Gebrüder Grimm in gedruckter Form zu besuchen. In der Ausstellung ging es um viele unterschiedliche Aspekte – den Ursprung, die Entwicklung des Bildmotivs und auch um die Bedeutung der tierischen Stadtmusikanten an sich. Das verführte mich dazu, auf Twitter folgende Frage zu stellen:

„Weil ich gerade in der Ausstellung war: mit welchen Eigenschaften verbindet Ihr die Bremer Stadtmusikanten?“

Auf diese Frage bekam ich viele spannende und unterschiedliche Antworten!
– Solidarität
– rüstig, mutig, klug, solidarisch. Geradezu prädestiniert für eine Senioren-WG
– Standfestigkeit
– Vorzüge des Älterwerdens
– Überlebenswille, Fähigkeit zu Visionen, Solidarität, Spaß
– stapelbare Tiere, die es geschafft haben zusammen zu singen, statt sich aufzufressen
– Vernunft und Mut
– die Gewißheit, alles zu überstehen, was das Leben einem zumutet. Die Zuversicht, es ins Gute wenden zu können. Überlebenswille, ein bißchen Anarchie (Protestsongs, Hausbesetzung)
– wie wir heute mit alten Menschen umgehen
– Cirque de Soleil, akrobatische Leistung
– der Esel trägt die ganze Last und der Gockel kräht nur Mist. Esel = Unternehmer, Gockel = Politiker
– Stapelfähigkeit
– vielfältig, hungrig, lebensmutig
– Zuversicht, Mut, Selbstwert
– coole Alten-WG
– Verzweiflung, grenzenlose Naivität, Glaube und Unwissen, Verdrängung zum eigenen Nutzen. Kein Zukunftsplan. Gewalt zur Durchsetzung der Erhaltung der derzeitigen unklaren Situation
– Gentleman, senil, assi, Schlafstörung
– stapelbar
– gut zu stapeln

Warum ich diese Frage gestellt habe? In einem Raum der Ausstellung hing ein Text, der auf folgende Eigenschaften der „Bremer Stadtmusikanten“ hinwies: Mut, Solidarität und Empathie. Ich gebe zu, daß ich über diese Frage vorher nie nachgedacht habe. Erst wollte ich einfach nur schreiben, daß diese drei Eigenschaften in der Ausstellung mit den Bremer Stadtmusikanten verbunden werden. Aber dann fand ich es viel spannender, diese Frage weiterzugeben.

Was bedeuten mir die Antworten?
Ich war über die Vielzahl und die Vielfalt der Antwort sehr überrascht. Wohlgemerkt positiv überrascht!

Es gab bei den Antworten für mich mehrere Ebenen.
Am offensichtlichsten war irgendwie die Bildebene – akrobatische Leistung, stapelbar. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, daß wir das Märchen sehr stark mit dem Bild genau der Szene, als die Räuber durch die aufeinander „aufgestapelten“ Tiere erschreckt werden und fliehen, verbinden. Es ist interessant, daß die Darstellung der Tierpyramide in England mit der Zeichnung von George Cruikshank begann. Aber ist das wirklich der Kern der Geschichte?

Die (aus meiner Sicht) zweite Ebene beschäftigte sich mit den Tieren in ihren „übertragenen“ Rollen – der Esel als Unternehmer, der die ganze Last trägt, Senioren- oder coole Alten-WG.

Besonders interessant aber auch nachdenklich gemacht hat mich die (aus meiner Sicht) dritte Ebene, in der es um „nicht-tierische“ Eigenschaften oder Werte ging – Mut, Solidarität, Zuversicht, Selbstwert, Vernunft, Vorzüge des Älterwerdens aber auch Verzweifelung, Naivität, Unwissen. Es war eine unglaubliche Vielfalt der Äußerungen – von sehr positiven Vorstellungen, dem Gedanken, daß alles irgendwie gut wird zu negativen Gedanken wie Naivität, Verzweiflung und Unwissen.
In der Ausstellung selbst standen übrigens „Solidarität, Mut und Empathie“ als Eigenschaften.

Ich habe die Frage an dem Abend vor der Europawahl am 26.05.2019 gestellt. Die Vielzahl und Vielfalt der Antworten hat mich sowohl an dem Abend als auch am folgenden Tag sehr beschäftigt. Was könnten wir von den Bremer Stadtmusikanten für uns und unsere Gesellschaft lernen? Ich hatte bei den Antworten sehr stark den Eindruck, daß die Solidarität zwischen den unterschiedlichen Tieren, die mit dieser Unterschiedlichkeit verbundene Vielfat und der Mut sich auch im Alter auf Neues einzulassen, gerade „jetzt“ wichtig und wertvoll sind. Deshalb habe ich mich entschlossen Eure Antworten in diesem Beitrag zusammenzufassen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß dieses Märchen auch heute mehr Bedeutung hat als nur „ein Jubiläum der Veröffentlichung“. Aber das muß ich erst einmal sacken lassen …..

Herzlichen Dank an @tasso2000, @_phoeni, @jjwieneke, @peterbreuer, @mai17lad, @prxpragma, @kleiner_Komet_, @Zonkey_von, @achtuhrkatze, @Iris_Rohmann, @VollVIP,@DerWischmopp, @EkiamRel, @abertrotzdem, @unteralt, @Manjol, @mashirojin, @Estezeh, @shiftatK und @whoofhausen für die Antworten, die mich zu diesem Blogbeitrag inspieriert haben!

Artikel 5 lebt!

Vor langer langer Zeit gab es mal einen Film mit dem Namen Nr. 5 lebt!. An diesen Filmtitel mußte ich denken, als ich gestern die Nachrichten und Tweets rund um das Thema „Regulierung“ und „Regeln“ von Meinungsäußerungen im Wahlkampf las. Für mich stellt sich das als Wunsch dar, die Meinungsfreiheit gemäß Artikel 5 Grundgesetz einzuschränken. Eine Einschränkung, die ich falsch finde – eine Einschätzung, die – wie ich gestern und heute verfolgen konnte – von vielen Menschen geteilt wird. Artikel 5 Grundgesetz muß leben, soll leben und lebt tatsächlich. Warum mir das wichtig ist, möchte ich in diesem Blogbeitrag erzählen.
Gleichzeitig ist die Beschäftigung mit diesem Thema auch ein Beitrag zur Blogparade „Was bedeutet mir die Demokratie“ des Deutschen Historischen Museums in Berlin.

Was Demokratie braucht?
Demokratie braucht den ständigen – friedlichen und angstfreien – Austausch zwischen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten. Jeder von uns ist irgendwie anders – andere Vorlieben und Interessen, andere Erfahrungen, andere Herkunft und letztendlich deswegen auch andere Ansichten.

Warum ist mir das Thema persönlich so wichtig?
Mein Leben ist in vielerlei Hinsicht einfach und privilegiert. Meine Eltern stammen aus einfachen Verhältnissen, haben es aber geschafft sich ein Häuschen zu ersparen und haben mir die Schulbildung und das Studium ermöglicht, das ich mir gewünscht habe. Es mag sein, daß viele Menschen einen einfacheren Weg hatten. Was aber sicher ist: viele Menschen hatten und haben einen schwierigeren Weg.
Meine Mutter ist mit 17 Jahren aus der DDR geflohen. Die Erfahrungen in der DDR haben sie sehr geprägt. Ihr war die Diskussion über gesellschaftliche und politische Themen immer wichtig. Oft waren wir völlig unterschiedlicher Ansicht, manchmal haben wir uns heftig gestritten. Ich habe dann „Beweise“ geliefert – Zeitungsartikel zum Beispiel. Und ich fand es bemerkenswert, daß meine Mutter – die keine Ausbildung und erst recht kein Studium hatte – bereit war, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. Sie war immer eine würdige aber auch faire Diskussionspartnerin. Von ihr habe ich meine Liebe zu Diskussionen aber auch die Bereitschaft, Menschen zuzuhören, die ganz andere Ansichten vertreten.
Demokratie und Meinungsfreiheit waren auf diese Art und Weise schon von Kindheit an wichtig. Meine Mutter hatte nie Angst vor Diskussionen – auch nicht mit Menschen, die einen viel höheren (formellen) Bildungsgrad hatten als sie. Das hat mich oft sehr beeindruckt (ich war als Kind sehr schüchtern!). Irgendwie schaffte sie es immer, mit anderen Menschen in ein Gespräch oder eine Diskussion zu kommen (ehrlich gesagt nicht immer zu meiner Freude…..).
Auch im Alter hat sich das bei ihr nicht verändert. Noch kurz vor ihrem Tod haben wir über viele Themen diskutiert – im Frühsommer 2017 überschlugen sich irgendwie die Ereignisse – Brexit, Wahlen in Frankreich, Putschversuch in der Türkei und im Herbst die Bundestagswahl und die Schwierigkeiten der Regierungsbildung. Sie hatte eine unglaubliche Freude an diesen Diskussionen – das ist mir tief in Erinnerung geblieben.

Wie kann man anderen Menschen dieses Thema näher bringen?
Seit ein paar Jahren gebe ich gelegentlich Kurse zu „Onlinethemen“ – in Weiterbildungsmaßnahmen zu Social Media, Online Redaktion und Datenschutz. Alles Themen, die nur denkbar sind, weil wir in Deutschland gemäß Art. 5 GG unsere Meinung äußern dürfen. Irgendwann bin ich im Rahmen der Kursvorbereitung darauf gekommen, die Grundrechte und vor allem Art. 5 GG zumindest für einige der Kurse in eine „Aufgabe“ zu packen. Ich wollte den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Kurse ein Gefühl für die Schönheit und herausragende Bedeutung der Grundrechte vermitteln. Ab 2016 wurde diese Vorgehensweise wichtiger als vorher. Gerade in Anbetracht der sich verändernden Situation in Deutschland wurde das Spektrum der Meinungen „breiter“, die Ablehnung von Andersdenkenden wurde (zumindest für mich) sichtbarer. Umso wichtiger fand ich es, mit anderen Menschen über Sinn und Umfang der Meinungsfreiheit und der anderen Freiheiten aus Art. 5 GG zu sprechen und zu diskutieren. Wir suchen die in Artikel 5 GG enthaltenen Grundrechte, reden über die Schranken in Absatz 2, über Zensur und über den Unterschied zwischen Absatz 1 und Absatz 3. Es gab wundervolle Diskussionen und es gab schwierige Diskussionen. Manche Runde mußte ich aus zeitlichen Gründen auch beenden. Es war sehr spannend, diese Gespräche zu führen.
Gerade gestern habe ich wieder in einem Kurs zum Thema Online Redaktion mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern über Art. 5 GG gesprochen – diesmal stand das Thema „Kunstfreiheit“ stark im Vordergrund (wir hatten vorher kurz über das Böhmermann-Gedicht gesprochen). Es ging um die Frage, ob Kunst geschmackvoll oder moralisch sein müsse. Spannende Fragen – die wir gemeinsam diskutiert haben.
Es fühlte sich merkwürdig an, nach dem Kurs lesen zu müssen, daß es Politiker gibt, die Meinungsäußerungen im Internet „irgendwie“ regulieren oder Regeln unterwerfen möchten.

Was bedeutet für mich Meinungsfreiheit?
„Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“ laut ein berühmtes Zitat von Evelyn Beatrice Hall über Voltaire. Diese Voltaire zugeschriebene Haltung kann ich sehr gut nachvollziehen. Gerade in Anbetracht der deutschen Geschichte ist es aus meiner Sicht extrem wichtig, daß wir die Meinungsfreiheit bewahren und pflegen. Dabei muß man allerdings zwei Dinge unterscheiden. Die vom Bundesverfassungsgericht definierte Meinungsfreiheit ist glücklicherweise sehr weit. Das, was gemäß Artikel 5 GG zulässig ist, enthält auch viele Aussagen, die mir inhaltlich und sprachlich mißfallen. Meinungsfreiheit bedeutet für mich gerade, daß Menschen diese Dinge sagen dürfen und ich ihr Recht dazu anerkenne und diese Aussagen toleriere. Was ich aber nicht muß: mit Menschen diskutieren, deren Aussagen mir inhaltlich oder sprachlich mißfallen. Meine persönliche Grenze darf niemals dazu führen, daß Menschen etwas nicht mehr sagen dürfen. Der breite Umfang der Meinungsfreiheit darf allerdings auch nicht dazu führen, daß ich unerwünschte Gespräche oder Diskussionen führen muß.
Gerade in den letzten Jahren ist der Ton in den sozialen Netzwerken (ich nutze vor allem Twitter) und in politischen Diskussionen und Talkrunden rauher geworden. Ich folge auf Twitter sehr bewußt Menschen, deren Ansichten ich nicht teile. Ich achte darauf, ihre Inhalte möglichst nicht zu teilen – weil ich sie nicht „stärken“ möchte oder ihnen Sichtbarkeit verschaffen möchte. Trotzdem finde ich es wichtig, ihre Ansichten und Argumente zu sehen und nachvollziehen zu können. Dieses Sehen und Nachvollziehen bedeutet für mich nicht, daß ich sie verstehe oder gar ihre Ansichten teile. Ich glaube aber, daß Gespräche in der Gesellschaft überhaupt nur dann möglich sind, wenn wir uns auch mit weit abweichenden Ansichten auseinandersetzen. Twitter soll für mich keine „Blase der glücklichen Tweets“ sein, ich möchte bewußt auch das mitbekommen, was mir mißfällt, mich stört und was ich nicht verstehe. Denn auch das gehört zur Meinungsfreiheit.

Was mir fehlt….
Was mir oft fehlt ist eine gute Gesprächskultur. Im kleinen geht das, bei größeren Diskussionen ist das schwierig – vor allem, wenn politische Gegner aufeinander prallen. Wie oft habe ich in diesem Jahr schon Dinge gelesen, die ich als beleidigend oder als persönlich angreifend auffasse. Auch Forderungen nach Rücktritt finde ich oft schwierig. Andererseits fehlt die Gesprächskultur auch vielen Amtsträgern. Ich war über die Äußerungen von Herrn Voss im Rahmen der „Urheberrechtsreform“ entsetzt. Es ist eine Sache, anderer Meinung zu sein – es ist eine völlig andere Sache, Menschen die sich für etwas einsetzen, zu diskreditieren. Das Bild, das Herr Voss und damit die CDU bei mir hinterließ, war: „Du darfst Stimmvieh sein, aber Deine Meinung interessiert uns nicht die Bohne.“ Umso schlimmer, daß vieles, was Herr Voss im Laufe der Zeit sagte, einfach falsch war. Dieser Eindruck wurde in den letzten Tagen noch gesteigert. Ja, es ist nicht schön, eine Wahl zu verlieren. Eine verlorene Wahl sollte aber für alle Beteiligten ein Anreiz sein, über gute Ideen nachzudenken, um Politik gut zu gestalten. Ich verstehe Politik nämlich als eine Art von Wettbewerb der guten Ideen und Konzepte.

Die verlorene Mittlerrolle…..
Was ich gestern jedoch ganz stark wahr nahm, war die Trauer über den Verlust der verlorenen Mittlerrolle und das hat mich sehr irritiert. Luther hat mit der Reformation die Mittlerrolle der Kirche zerstört. Der Mensch konnte plötzlich unmittelbar mit Gott sprechen, er brauchte die Kirche nicht mehr als Mittler. Parteien und klassische Medien haben lange Zeit eine ähnliche Rolle gehabt. Das hatte für beide Seiten sicherlich Vorteile. Andererseits fand ich manches oft nervig. Wahlkampfthemen, die mich nicht ansprachen, Wahlwerbung und Wahlplakate, die mich nicht interessierten – TV-Gespräche mit Spitzenkandiaten oder Talkshowrunden, die mit meinem Leben wenig oder gar nichts zu tun hatten. Die Tatsache, daß wir alle über das Internet und Social Media unsere Meinung äußern können, über Themen diskutieren und auch (wie zum Beispiel bei Fridays for Future oder den Demonstrationen gegen Art. 17 der Urheberrechtsreform) uns – wenn gewollt – organisieren können, stellt eine neue zeitgemäße Form von Meinungsfreiheit und Demokratie dar. Das macht Parteien aus meiner Sicht nicht überflüssig, es verlangt von ihnen aber, die Menschen nicht nur alle vier oder fünf Jahre als potentielle Wähler zu sehen, sondern ihnen zuzuhören und sich mit ihren Anliegen und Themen zu beschäftigen. Social Media – mit YouTube, Twitter und Co ist da eine vorherragende Möglichkeit, dieses Zuhören zu üben und (ohne falsche Versprechen) auch über mögliche Themen zu sprechen. Die Youtuber rund um Rezo haben das erfolgreich vorgemacht.

Und nun?
Ich glaube nicht, daß wir über Regeln für einen „fairen Wahlkampf“ sprechen müssen. Eine Meinungsäußerung durch YouTuber ist nicht unfair. Es ist einfach nur eine Meinungsäußerung, so wie sie von den großen Parteien auch an anderer Stelle bereits genutzt wird (beispielhaft hier für die SPD und für die CDU). Letzlich ist auch jeder Zeitungsartikel und jede Talkshow eine Meinungsäußerung in bezug auf einen (irgendwann) kommenden Wahlkampf. Vielleicht ist das ein Kernproblem unserer Zeit. Menschen in der Politik beharren oft stärker auf den Ansichten ihrer Partei, lehnen Gedanken und Ideen von „den anderen“ ab, weil diese ja „Gegner“ sind. Ich habe oft den Eindruck, daß nicht die gute inhaltliche Lösung, sondern das Gewinnen oder Verlieren im Wettstreit der Parteien zählt. Ja, das betrifft auch uns Wählerinnen und Wähler – ich nehme mich da gar nicht aus. Aber vielleicht bietet uns die heutige Zeit auch die Chance, uns in diesem Punkt weiterzuentwickeln.

Was ich mir wünsche?
Ich möchte auch weiterhin in Frieden und ohne Angst meine Meinung äußern können. Ich möchte, daß alle Menschen in Deutschland (am liebsten auch in Europa und in der ganzen Welt) – egal welcher Nationalität, Herkunft, Religion, Orientierung, Ansichten etc – dies im Rahmen der Regeln von Art. 5 GG tun können und daß wir alle, dieses Recht tolerieren (auch wenn uns einzelne Inhalte mißfallen), achten und verteidigen und zwar gegenüber jedem, der dieses Recht angreift! Wer die Meinungsfreiheit angreift, greift nach meinem Verständnis die Demokratie an. Deswegen müssen wir wachsam sein und auf die Menschen achten, die – aus welchen Gründen auch immer – unsere Unterstützung brauchen, damit auch ihre Meinung gehört werden kann.

Hoffnungslos oder realistisch?

Gestern habe ich das Buch „Miese Stimmung“ (Untertitel: Eine Streitschrift gegen positives Denken) von Arnold Retzer zuende gelesen. Ich hatte das Buch vor ein paar Jahren schon einmal angefangen, aber nie zuende gelesen. Gerade in Zusammenhang mit meinem letzten Beitrag in diesem Blog und dem Thema „Hoffnungslosigkeit“ war das Buch sehr passend – es hätte keinen besseren Zeitpunkt für die Lektüre dieses Buches geben können. Ich möchte hier ein paar erste Gedanken festhalten.

Der Gedanke der Ambivalenz
Ich mag den Gedanken der Ambivalenz – also die Tatsache, daß etwas gleichzeitig gut und schlecht sein kann, bitter und süß, halt doppeldeutig. Dieser Gedanke kommt auch wunderbar in dem Buch „111 Tugenden, 111 Laster“ (Untertitel: Eine philosophische Revue) von Martin Seel zum Ausdruck.
Wenn Hoffnung die „positive Seite“ ist, was ist dann die negative Seite? Hoffnungslosigkeit oder Realismus? Retzer bezeichnet Hoffnung an einer Stelle als Informationsignoranz, Seel unterscheidet zwischen begründeter Hoffnung und blinder Hoffnung.
Ich selbst habe mir – bevor ich das Buch von Retzer gelesen habe – ganz deutlich die Frage gestellt, wann und wie „Hoffnungslosigkeit“ sich in den letzten Jahren in meinem Leben ausgewirkt hat. Erstaunlicherweise habe ich mich sofort an zwei Situationen erinnert, die – über die Jahre hinweg – eng miteinander verbunden sind.

Rückblick 1: Februar 2018
Es ist der Abend der Erinnerungsveranstaltung der Organisation, die meine Mutter im November 2017 ein paar Tage lang palliativ zuhause betreut und begleitet hat. Es ist ein gutes Gefühl, dort hinzugehen. Nach der eigentlichen Veranstaltung, die sehr schön gestaltet ist und die natürlich auch noch einmal ein paar Tränen mit sich bringt, spreche ich länger mit einer der betreuenden Schwestern. Als ich ihr erzähle, daß mir das Sterben meiner Mutter im August bewußt geworden ist und ich sie bewußt bis zum Ende begleitet habe, sagt sie mir, daß das eher selten ist.
Ich frage mich im Anschluß an das Gespräch, warum ich das tatsächlich gemerkt habe und kann es mir nicht erklären.

Rückblick 2: Juli 2012
Meine Mutter hat gerade die Diagnose Krebs (genauer metastasierter Brustkrebs) erhalten. Ich begleite sie zu den wichtigen Gesprächen. Ich bestelle mir Bücher zum Thema, informiere mich umfassend, lese in den entsprechenden Foren viele Erfahrungsberichte – gerade auch die Berichte von Menschen, die schon verstorben sind oder im letzten Stadium der Krankheit sind. Ich weiß, daß meine Mutter nie mehr gesund werden wird und daß es nur darum geht, die verbleibende Lebenszeit „gut“ – also mit hoher Lebensqualität zu verbringen.

Mit dem Wissen von heute…..
Mit dem Wissen von heute kann ich sagen, daß ich damals „hoffnungslos“ war. Ich habe nie auf Heilung gehofft oder auf ein Wunder. Ich wußte immer, daß eine schwierige Zeit kommen wird – ich hatte allerdings viel früher mit dieser schwierigen Zeit gerechnet. Jedes schöne Jahr war ein Geschenk, jeder gute Moment wurde zu einer wunderbaren Erinnerung. Im Wissen um die irgendwann kommende schwierige Zeit habe ich meine Mutter gebeten, mir mit einem gemeinsamen Urlaub eine schöne Erinnerung zu schenken (wir haben immer sehr offen über den Tod gesprochen!). Im Juni 2016 hat sie mir diese schöne Erinnerung geschenkt – ich war also irgendwie „vorgewarnt“. Die realistische Einschätzung hat mir die Kraft und den Mut gegeben, meine Mutter durch die Zeit der Krankheit und durch ihr Sterben zu begleiten. Und gerade weil ich nicht gehofft habe, konnte ich die Zeichen der Veränderung wahrnehmen, die sich im Sommer 2017 eingeschlichen haben.

Gut oder schlecht?
War das jetzt gut oder schlecht? Darauf gibt es vermutlich keine allgemein richtige Antwort. Ich kann es durchaus verstehen, wenn jemand in einer vergleichbaren Situation bis zum Ende die Hoffnung auf Heilung oder gar auf ein Wunder hat. Ich würde auch niemandem die Hoffnung nehmen wollen. Das ist auch der Grund, weshalb ich mich bei Antworten an Betroffene (Kranke oder Angehörige) stark zurückhalte. Mein Weg war für mich richtig, für andere Menschen kann er grundfalsch sein. Es ist diese Polarität, die mir durch das Lesen des Buches noch einmal sehr deutlich geworden ist. Menschen müssen mit ihrem Schicksal umgehen, sie müssen Dinge hinnehmen, die sie „nicht verdient“ haben, die „ungerecht“ sind. Ein standardisiertes „Du mußt hoffen“, „die Krankheit hat ihren Sinn“ oder „Du mußt kämpfen“ (gerade im Angesicht von Krankheiten) empfinde ich persönlich weder als hilfreich noch als passend. Und wenn man den Kampf verliert? Ist man dann schuld, weil man nicht genug gehofft oder gekämpft hat? Darf man den „Kampf“ oder die „Hoffnung“ aufgeben? Oder ist es so sehr Bestandteil unseres Menschen- und Gesellschaftsbildes geworden, daß der Kampf geführt werden muß, weil es ein guter Kampf ist?

Wo bleibt die Entscheidungsfreiheit?
Meine Mutter kam mit ihrem Onkologen sehr gut zurecht. Von manchen Patienten wurde er im Internet als wenig „empathisch“ geschildert, für meine Mutter war er genau richtig. Er hat sie nie bemitleidet, aber er hat sich immer gefreut, wenn es ihr gut ging oder wenn eine Behandlung anschlug. Am wichtigsten war aber: er hat meine Mutter immer entscheiden lassen. Ganz wörtlich! Ich erinnere mich an einige Gespräche bei denen ich dabei war. Wenn eine neue Behandlung notwendig war, dann haben wir einen Besprechungstermin gemacht. Er hat ein Mittel vorgeschlagen, durchaus mit dem Hinweis „wir könnten xxx versuchen“. Ich habe nach potentiellen Nebenwirkungen gefragt. Und dann hat er meine Mutter gefragt: Wollen Sie diese Chemo machen? Sie hätte jederzeit nein sagen können. Es gab nie die Pflicht zu hoffen oder zu kämpfen, es gab immer eine Wahl.

Das Ertragen der negativen Gefühle…..
Nicht alles in dieser Zeit war einfach, im Gegenteil. Meine Mutter hatte vor manchen Dingen Angst. Vor unserem ersten gemeinsamen Termin habe ich ihr eine Übung gegen Angst erzählt, die ich in einem der Krebsbücher gefunden hatte. Man sollte in Gedanken eine Treppe hochgehen, jede Stufe zählen und dann dann abwärts zählend wieder heruntergehen. Es war ein kleines Gespräch am Rande, eine Information, die sich auch einfach ignorieren konnte. Ich habe nie nachgefragt. Über ein Jahr später hörte ich, wie sie in einem Telefongespräch einer Bekannten von dieser Übung erzählte und wie sehr ihr diese Übung geholfen hatte.
Auch ich hatte immer mal wieder Angst, Angst vor den Nebenwirkungen der Chemos, Angst vor dem Fortschreiten der Erkrankung, Angst vor dem, was irgendwann kommen würde. Zu wissen, was kommen kann, macht vieles nicht einfacher. Unwissenheit kann durchaus eine Gnade sein, Nichtinformation stand für mich persönlich aber nie zur Wahl. Gerade mit meiner Entscheidung für das Höchstmaß an Wissen konnte ich meine Mutter bei dem Ziel „Lebensqualität“ gut begleiten. Letztlich habe ich im Rückblick das Gefühl, daß ich die Herausforderungen dieser Zeit – trotz oder gerade wegen des Zulassens der negativen Gefühle von Angst und Traurigkeit – gut gemeistert habe. Es war eine sehr intensive Zeit, zu der neben vielen sehr schönen Erlebnissen auch die angstvollen und traurigen Zeiten gehören.

Hoffnungslos oder realistisch?
Vieles, was ich einfach nur als realistisch einschätze, hört sich für andere Menschen „hoffnungslos“ an. In der unterschiedlichen Bezeichnung steckt sehr viel stärker eine Bewertung der zugrundeliegenden Haltung als ein inhaltlicher Unterschied. Ja, ich war und bin in vielen Dingen „hoffnungslos“. Ich habe diesen Begriff auch selber verwendet. Für mich fühlt es sich falsch an, für mich selbst auf etwas zu hoffen, daß realistisch gar nicht eintreten kann. Der (durchaus radikale) Verzicht auf Hoffnung erlaubt den Abschied von Menschen aber auch von Vorstellungen und Bildern, die man sich von sich selbst und seiner Zukunft gemacht hat. Es erlaubt das aktive Trauern und nach Abschluß der Trauerphase auch die Veränderung, die Schaffung neuer Bilder und Vorstellungen von einem selbst und von der Zukunft. Aber dazu werde ich vielleicht noch einmal separat etwas schreiben……