Eine Frage der Perspektive…..

Eigentlich, ja eigentlich sollte ich heute etwas anderes machen. Den Kurs für die Medienfachwirte vorbereiten, Anfragen von Mandanten beantworten…. Aber: irgendwie hat mir das Schicksal – in diesem Fall in Form eines Twittergesprächs – ein Thema vor die Füße geworfen, daß ich nicht liegenlassen möchte. Daher gibt es hier – endlich mal wieder – einen Blogbeitrag.

Heute morgen las ich folgenden Tweettext: „Die Fähigkeit, die Perspektive eines anderen Menschen einnehmen zu können, bedeutet nicht die Negierung der eigenen Perspektive sondern es bedeutet die Fähigkeit, die Perspektive eines anderen Menschen einnehmen zu können, um damit eine größere, eigene Perspektive zu erlangen.“ Ich habe erst einmal in Ruhe über diesen Satz nachgedacht. Dann habe ich genickt und den Satz retweetet. Kurz danach las ich (völlig unabhängig von meinem Retweet) eine Antwort auf diesen Tweet: „Wobei offen bleibt, welche Perspektive eingenommen wird, wenn man meint, die Perspektive eines anderen Menschen einzunehmen. Könnte es nicht auch sein, dass damit wieder nur die eigene Perspektive – nun als Projektion einer vermeintlich anderen Perspektive – eingenommen wird?“ Hmm, ja – schon irgendwie. Aber greift das nicht zu kurz? Führt nicht auch der Versuch, eine andere Perspektive einzunehmen zu Veränderung oder zu mehr Verständnis? Ich antwortete und ein spannendes Twittergespräch entspann sich. Danke an @SKunzke und @DanielHornuff für die Anregung zu diesem Thema und dieses Gespräch (witzigerweise an einem Tag, an dem ich vorher einen Tweet zum Thema „fehlende Twittergespräche“ beantwortet und kurz etwas zum Thema „Mediation“ geschrieben habe – beides hängt interessanterweise eng zusammen).

Die eigene Perspektive
Wir alle haben – ob bewußt oder unbewußt – unsere Sicht auf die Dinge, unseren Standpunkt. Ganz einfach betrachtet: wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich meinen Garten. Auch die Nachbarn rechts und links von mir können meinen Garten sehen, aber ihr Blickwinkel auf meinen Garten ist anders. Einmal, weil sie tatsächlich andere Dinge sehen können (ich kann zum Beispiel die Himbeeren nicht sehen, weil die hinter einem ziemlich großen Strauch stehen, von der Seite kann man die sehen), zum anderen weil sie andere Dinge mögen (andere Pflanzen/Blumen, weniger Unkraut, keine wild wachsende Wiese). Ich mag meinen Garten (auch wenn ich tatsächlich mal etwas Gartenarbeit machen sollte), aber ich vermute – sicher nicht zu Unrecht – daß meine Nachbarn meine Ansicht nicht teilen.

Wo immer wir uns körperlich befinden, nehmen wir unsere Umgebung wahr. Wir sehen, hören oder riechen etwas. Und irgendwie denken wir ziemlich oft, daß andere Menschen in diesem Moment genau dasselbe hören, sehen oder riechen. Das kann so sein, aber Mißverständnisse entstehen oft dann, wenn wir das voraussetzen. Ich weiß noch, daß ich vor einigen Jahren (kurz nach Beginn der Mediationsausbildung) mit meiner Mutter im Siebengebirge wandern war. Wir waren in einem Wald. Meine Mutter schaute sich um und sagte „Schöner Baum.“ Wir waren in einem Wald. Es gab nicht nur einen Baum, sondern zig Bäume. Was tun? Nicken und bestätigen oder nachfragen? Normalerweise hätte ich einfach „ja“ gesagt, denn es gab dort wirklich schöne Bäume. Aber die Mediationsausbildung provozierte mich in diesem Moment zur Nachfrage „Welchen Baum meinst Du?“ Meine Mutter fand die Nachfrage nicht wirklich gut, wir haben das Thema nicht weiter verfolgt, aber diese kleine Szene ist mir doch in Erinnerung geblieben.
Andererseits ist es manchmal schwierig, beim eigenen Standpunkt zu bleiben, wenn andere Menschen einen fragend oder ablehnend anschauen oder sich sogar deutlich dagegen aussprechen. Vor vielen Jahren wanderte ich Ende April mit meiner Mutter in der Nähe von Eisenach. Wir gingen einen Waldweg an einem Flüßchen hinunter und ich nahm die ganze Zeit einen immer stärker werdenden Bärlauchduft wahr. Irgendwann sagte ich „es duftet nach Bärlauch“. Aber da war kein Bärlauch zu sehen und meine Mutter hielt das für eine Verirrung meiner Nase. Trotzdem. Ich bestand darauf. Einige Wegbiegungen später sahen wir auf der anderen Seite des Flüßchens ein richtig großes Bärlauchvorkommen.

Die eigene Perspektive ist aber nicht auf diese unmittelbar körperliche Wahrnehmung begrenzt. Wenn ich etwas lese – einen Tweet zum Beispiel, einen Blogbeitrag, einen Zeitungsartikel oder ein Buch – dann mache ich mir auch darüber Gedanken. Ich stimme zu (wie im Fall des oben geschilderten Retweets) oder ich lehne den Gedanken oder die Wortwahl ab. Manchmal äußere ich mich dann, manchmal (eigentlich meistens) nicht. Aber irgendwie habe ich immer eine Art von „Erklärung“, warum etwas für mich nicht paßt, sich für mich „falsch anhört“. Es ist nicht immer eine logische oder irgendwie begründete „Erklärung“, manchmal ist es einfach das Gefühl „das ist falsch“ oder „das paßt für mich nicht“. Und wenn es falsch ist, dann darf ich das ja auch so sagen/schreiben. Oder etwa nicht?

Was, wenn es anders wäre….?
Das was ich fühle, denke, wahrnehme ist für mich selbst erst einmal richtig. Es ist meine subjektive Wahrheit. Aber: wenn es für mich wahr ist, wie kann es dann für andere Menschen falsch sein? Liegen diese Menschen dann nicht falsch? Und ist es dann nicht hilfreich und wichtig, daß ich Ihnen die Wahrheit mitteile?

Ja, wenn es so einfach wäre….. Denn oft gibt es viele „Wahrheiten“ – also Sichtweisen, die nicht falsch sind, die sogar gleichzeitig richtig und zutreffend sind. Eben eine Frage der Perspektive! Es war der Vorteil der Mediationsausbildung, daß ich mich mit diesem Thema tiefer beschäftigen konnte und durfte.

Kennt Ihr „Vexierbilder“? Also diese Bilder, die gleichzeitig unterschiedliche Bilder enthalten? Ich habe hier einmal ein Beispiel verlinkt – was seht Ihr auf diesem Bild? Oder hier? Es ist gleichzeitig faszinierend und verwirrend, daß wir unterschiedliche Dinge sehen können und doch gleichzeitig mit unserer Wahrnehmung dessen, was wir sehen, recht haben. „Wahrheit“ ist bei diesen Bildern eben nicht auf eine einzige Art der Wahrnehmung beschränkt. Es gibt kein „nur das ist richtig“. Was aber, wenn wir nicht alles „sehen“, was wir sehen könnten?

David Foster Wallace hat in seinem – ursprünglich als Rede verfaßten – Text „This is water“ gute Beispiele gebracht, warum wir durch die Fokussierung auf uns selbst – also auf uns selbst als Mittelpunkt der Welt – sehr viel gar nicht sehen und wahrnehmen können. Wenn ich in einem vollen Supermarkt an der Kasse warte, dann kann ich mich darüber ärgern, daß so viele Menschen auch gerade einkaufen wollen. Oder ich kann darüber nachdenken, ob diese Menschen auch gerade genau dasselbe denken, ob sie vielleicht noch viel weniger als ich zu einem anderen Zeitpunkt einkaufen gehen können. In dem Moment, wo ich den Gedanken zulasse, daß die Welt sich nicht nur um mich dreht (schade eigentlich, oder?), öffnet sich die Möglichkeit andere Perspektiven wahrzunehmen.

Es könnte anders sein!
Menschen haben (fast) immer einen guten Grund, so zu handeln/reagieren, wie sie es tun. Es ist dieser Satz aus der Mediationsausbildung, den ich in sehr guter Erinnerung behalten habe. Unsere Erlebnisse und Erfahrungen prägen uns und beeinflussen, wie wir denken, handeln und reagieren. Eine Situation, die für mich einfach und unproblematisch ist, kann für andere Menschen belastend sein und andersherum. Es ist ein bißchen so wie in der Geschichte Der Tempel der 1000 Spiegel. Wobei das nicht heißen soll, daß alle Probleme sich auflösen, wenn man seiner Umgebung freundlich begegnet. Sondern eher, daß wir durch unsere guten und schlechten Erfahrungen geprägt werden.

Kleines Beispiel: meine ersten Grenzerfahrungen habe ich als Kind bei Reisen in die DDR gemacht. Es war immer eine angespannte Situation, weil meine Mutter 1956 geflohen ist und wir fast immer ziemlich gründlich kontrolliert wurden. Bei „Grenzen“ denke ich dementsprechend immer noch zuerst an genau diese angsteinflößende Atmosphäre, auch wenn ich bei all meinen späteren Reisen in andere Länder nie Probleme hatte. Aber diese erste „Erfahrung“ steckt tief in mir drin.

Andererseits habe ich bisher keinerlei unangenehme Erfahrungen mit Behörden oder mit der Polizei gemacht. Dementsprechend sind dies für mich keine angstbeladenen Situationen. Mit der Frage „was, wenn es anders wäre?“ kann ich mir aber vorstellen, daß Menschen mit anderen Erfahrungen und Erlebnissen jede neue Begegnung mit diesen Stellen als problematisch und schwierig empfinden. Aber wie merke ich, ob es wirklich so ist oder ob ich wiederum nur etwas unterstelle, was für mich passend aussieht? Wenn ich die Ruhe und Muße habe und mich der Mensch/das Thema interessiert, dann versuche ich Fragen zu stellen. Also offene Fragen. Auch das ist eine „Technik“, die ich während der Mediationsausbildung gelernt habe. Nicht immer werden meine Fragen beantwortet, nicht immer kann ich mit den Antworten etwas anfangen. Das ist in Ordnung. Aber in jeder offenen Frage (in der vor allem keine Bewertung enthalten ist) steckt die Chance, die Perspektive eines anderen Menschen zu sehen und (vielleicht) zu verstehen. Twitter hat mir dafür in vielen Gesprächen immer wieder gute Gelegenheiten gegeben – oft auch durch das Mitlesen von Gesprächen und Diskussionen. Nicht immer habe ich mich so verhalten, wie ich gerne wollte. Es gibt Gespräche, die nicht gut verlaufen sind, immer wieder Enttäuschungen und Verärgerungen bei Gesprächsbeteiligten. Und doch ist Twitter ein guter Ort, um immer wieder darüber nachzudenken, warum ein Mensch etwas so schreibt/macht/denkt, wie es in einem Tweet steht und die Chance darüber nachzudenken, was das mit mir macht und vor allem – wenn es mich „stört“ – warum das so ist. Denn es könnte ja einfach sein, daß ich nur meine Perspektive sehe …….

Fairer Umgang miteinander?

Vor ein paar Tagen hat Arno Peper bei Twitter den Hashtag #fairerUmgangmiteinander ins Leben gerufen. Es geht ihm dabei darum, der Verrohung der Sprache etwas entgegenzusetzen und damit auch zu verhindern, daß immer mehr Menschen Twitter verlassen oder sich zurückziehen.
Grundsätzlich finde ich die Idee gut. Gleichzeitig sehe ich für mich einige Herausforderungen, die ich in einem Tweet auch schon erwähnt habe, hier aber etwas genauer „beleuchten“ möchte.

1. Verrohung der Sprache
Sprache ist für mich – nicht nur bei Twitter – ein sehr wichtiges Kriterium. Ich glaube nicht, daß man Schimpfwörter oder „beleidigende Bezeichnungen“ (ich meine das nicht im strafrechtlichen Sinne) braucht, um miteinander zu sprechen oder zu diskutieren. Ein gutes Gespräch kann und muß ohne solche Begriffe auskommen. Gleichzeitig merke ich vermehrt, daß bei Twitter eine Art von Sprache Einzug hält, sozusagen salonfähig wird, die ich für mich nicht mag. Nein, diese Sprache ist nicht verboten und ich möchte auch nichts verbieten. Definitiv nicht. Aber es macht mir keinen Spaß, Unterhaltungen zu verfolgen oder daran teilzunehmen, in denen Menschen sich gegenseitig aufgrund abweichender Einstellungen als Dummköpfe, Denunzianten etc. bezeichnen (und das sind jetzt völlig harmlose Beispiele). Da bin ich einfach am falschen Ort. Ich habe schon sehr frühzeitig angefangen, nur Menschen zu folgen, die solche Begriffe – in der Regel – nicht verwenden und ich bin heute sehr dankbar dafür. Trotzdem merke ich auch in meiner Timeline den Trend zu einer Verrohung.

2. Etwas dagegen tun?
Ja und nein, also ein deutliches „jein“. Ich selber achte sehr darauf, auch in Momenten starker emotionaler Betroffenheit keine Schimpfwörter/beleidigenden oder abwertenden Bezeichnungen zu nutzen (auch wenn es in mir drin manchmal brodelt). Nichts wird besser, wenn ich auf meine eigenen sprachlichen Ansprüche verzichte, im Gegenteil – das „Gespräch“ würde vermutlich noch stärker aus dem Ruder laufen und ich würde mich hinterher selbst verachten. Nein, Verrohung meiner Sprache ist für mich kein Gegenmittel.
Meist führe ich Gespräche, die solche Begriffe enthalten nicht weiter oder gehe zumindest darauf nicht ein. Es macht keinen Sinn, einen sprachlichen Abgrund noch zu vertiefen. Da wo ein gemeinsames Gespräch eben nicht möglich ist, würde jedes weitere Wort alles nur verschlimmern. Ich denke hier sofort an die Stufen der Konflikteskalation nach Friedrich Glasl – „gemeinsam in den Abgrund“ ist die letzte Stufe der Eskalation, die bei Twitter in der Regel das ein- oder gegenseitige Blocken ist. Kommunikation ist dann nicht mehr möglich, eine „Konfliktlösung“ auch nicht.
Eigentlich wäre es spannend, sich Twittergespräche mal unter der Maßgabe dieser Konflikteskalationsstufen anzuschauen…….

Eingreifen in Gespräche anderer? Eher nein. Das wäre so etwas wie die Stufe 4 von Glasl – Koalitionen. Man ist in dem Moment zumindest für einen der Gesprächspartner nicht neutral. Wenn ich also einem Twitterer „vorwerfe“, daß er/sie eine unangemessene Sprache verwendet, dann verstärke ich vermutlich den Konflikt. Gleichzeitig fühlt es sich oft schlecht an, wenn Menschen „angegriffen“ werden, deren Meinungen/Tweets man schätzt.

Den Hashtag #fairerUmgangmiteinander verbreiten? Einerseits finde ich den Gedanken dahinter gut, andererseits stehe ich ungern für etwas ein, das ich inhaltlich nicht erklären/definieren kann und was – weil auf Twitter angelegt – flüchtig ist. Für mich hat der Hashtag drei Herausforderungen, die ich im folgenden ansprechen möchte.

3. Die Flüchtigkeit von Tweets
Tweets sind flüchtig. Das ist durchaus gut so, denn sie haben für mich in der Regel den Charakter von momentbezogenen Äußerungen oder Gesprächen. Es ist nicht wirklich wichtig, zu „bewahren“, was ich vor ein paar Tagen zu irgendjemand im Supermarkt oder im Bus gesagt habe. Twitter ist für mich vergleichbar. Deswegen ist für mich eine Initiative, die sich ganz klar auf Twitter beschränkt, von vornherein beschränkt. Ich kann nur begrenzt nachlesen, was sie ausmacht, wer dazu gehört, wer was darunter versteht. Meines Erachtens würde eine Verstetigung/Verbreitung der Initiative einen festen Ausgangspunkt außerhalb von Twitter brauchen, auf den in Tweet auch verlinkt werden könnte. Aber das ist meine persönliche Meinung.

4. Was ist eigentlich fair?
Das ist für mich der schwierigste Teil – was ist eigentlich „fair“? Wikipedia definiert „fair“ beziehungsweise „Fairness“ wie folgt: „Fairness geht als Begriff auf das englische Wort „fair“ („anständig“, „ordentlich“) zurück. Fairness drückt eine (nicht gesetzlich geregelte) Vorstellung von Gerechtigkeit aus. Fairness lässt sich im Deutschen mit akzeptierter Gerechtigkeit und Angemessenheit oder mit Anständigkeit gleichsetzen.“

Alles klar, oder?
Vermutlich hat fast jeder Mensch einen eigenen Begriff von dem, was er/sie als fair, anständig beziehungsweise gerecht empfindet. Oftmals empfinden wir Dinge, die wir selber machen/aussprechen als anständig und gerecht (weil: es ist ja so!), Dinge, die andere machen/aussprechen aber nicht (weil: der-/diejenige hätte mich ja mal vorher fragen können).

Letzlich ist hier wohl die goldene Regel „was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg auch keinem anderen zu“. Für mich persönlich haben sich im Laufe der Zeit (und durchaus beeinflußt durch die Mediationsausbildung in der Zeit von 2010 bis 2012) einige Punkte ergeben, die ich bei Gesprächen/Kontakten für mich versuche zu beachten – versuchen deshalb, weil Menschen immer Fehler machen und ich auch oft erst später merke, daß ich meine eigenen Prinzipien nicht beachtet habe.

5. Grundsätzliche Prinzipien
Damit ich „fair“ kommunizieren kann, muß ich für mich einige Grundbedingungen oder Prinzipien einhalten. Wenn ich selber diese Grundbedingungen oder Prinzipien einhalte, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß ein Gespräch auch über schwierigere Themen möglich ist. Natürlich kann es trotzdem schieflaufen – denn schließlich führe ich das Gespräch nicht alleine. Mein Gesprächsanteil kann daher positiv oder negativ sein – trotzdem kann das Gespräch „kippen“ und dann bleibt manchmal nur die Möglichkeit für eine gewisse Zeit Gesprächen mit dem/der Gesprächspartner/in aus dem Weg zu gehen, den-/diejenige stummzuschalten, zu entfolgen und/oder zu blockieren. Das eigene Wohlbefinden ist an der Stelle wichtiger als das Wohlbefinden der anderen Gesprächsbeteiligten!

* Wem folge ich und worauf antworte ich?
Menschen äußern auf Twitter ihre Gedanken und Ansichten. Wenn mir die Äußerungen von vornherein nicht gefallen, dann gibt es keinen Grund diesen Menschen zu folgen oder ein Gespräch zu beginnen. Ja, gelegentlich tappe ich auch in die Falle mit dem Gespräch ….. Aber so ganz grundsätzlich als Beispiel: ich mag keine Schokolade (wirklich!!). Gestern oder heute las ich in einem Tweet, daß „ein Leben ohne Schokolade möglich aber sinnlos ist“. Welchen Wert hätte es zu antworten, daß ich Schokolade nicht mag? Es sind oft diese „Du bist dumm/blöd/…., weil Du das magst/oder nicht magst“-Kommentare, die verletzen können. Ich habe das bei eigenen Tweets im Frühjahr oft erlebt. Ja, die Antworten sind oft sogar gut gemeint, aber ich fand sie nicht hilfreich, weil sie meine Ansicht zu einem bestimmten Punkt grundlos in Frage stellen und mir das Gefühl geben, „Deine Ansicht ist nicht in Ordnung“. Doch! Wenn jemand eine Ansicht hat, dann kann ich gegebenenfalls fragen, warum er/sie diese Ansicht hat, aber ich muß doch nicht widersprechen. Damit kommen wir zum nächsten Punkt.

* Fragen stellen
Tweets sind relativ kurze Texte. Manchmal macht man sich über irgendwelche Dinge lange Gedanken, formuliert Sätze im Kopf hin und her und schreibt dann einen Tweet. Dieser Denkvorgang ist im Tweet in der Regel nicht sichtbar. Das, was für mich klar und positiv ist, kann für andere falsch klingen. Statt nachzufragen, wie etwas gemeint ist, kommt dann oft ein Kommentar/eine „gut gemeinte Empfehlung“, die zum Thema/zum Gedanken überhaupt nicht paßt.
Das paßt übrigens auch zur Diskussion um den dpa-Tweet zum Interview mit Carsten Linnemann. Die dpa hat einen Gedanken bewußt überspitzt und damit eine „Diskussion“ (ok, einen „Shitstorm“) nur auf Basis dieser Überschrift losgelöst. Ich habe die Entwicklung der Diskussion voller Spannung verfolgt – auch weil sie das Anspringen auf bestimmte Begriffe (unabhängig von meiner inhaltlichen Ansicht) hervorragend zeigt. Toll fand ich übrigens, daß die dpa die Überschrift korrigiert und das auch getwittert hat. Was an der Diskussion bezeichnend war: kaum jemand hat den Text gelesen oder noch einmal gefragt, hat er wirklich „Grundschulverbot“ gesagt, die meisten haben den Begriff als „so ist es“ angenommen und nur auf diesen Begriff reagiert. Damit kommen wir zum nächsten Punkt.

* Verlinkte Inhalte lesen und nicht nur auf die Überschrift/Stichworte reagieren
Ich retweete in der Regel keine Texte, die ich nicht selbst gelesen habe (Ausnahmen bei besonders vertrauenswürdigen Twitterern!). Das was für den Retweet gilt sollte auch für das Gespräch über ein Thema gelten. Ein Teil unserer kommunikativen Probleme hängt für mich damit zusammen, daß wir Worte/Begriffe aus dem Zusammenhang reißen, uns über unsere Vorstellungen von dem Gemeinten empören – ohne zu fragen „hast Du das so gemeint, wie ich das gerade verstehe“ und damit gelegentlich eine „Empörungswelle“ lostreten, die sich nicht mehr aufhalten läßt. Das zusätzlich schwierige: man kann in diesem Moment praktisch nicht mehr deeskalierend eingreifen.

* Trennung von Person und Sache
Es ist für mich ein Riesenunterschied, ob jemand sagt „Du bist dumm“ oder „Deine Ansicht zum Thema X ist dumm“ (wobei ich auch disese Formulierung persönlich vermeide, bei mir ist es dann im schlimmsten Fall eher „unsinnig“). Ja, auch ich kann mich irren und Gespräche können durchaus dazu führen, daß ich über etwas nachdenke, nach „Beweisen“ suche oder nach der Begründung des Gesprächspartners für die von ihm/ihr geäußrte Ansicht frage. Kein Mensch kann alles wissen. Menschen können sich informieren, sie können lernen – dafür muß ich dem anderen Menschen aber diese Fähigkeit zugestehen. Wenn ich einzelne Punkte/Themen „kritisiere“ fühlt sich das anders an, als wenn ich den Menschen an sich abwerte.
Der zweite wichtige Punkt: auch Menschen, die ich persönlich schätze, müssen nicht in allen Punkten meiner Meinung sein. Gespräche wären langweilig, wenn alle immer dasselbe denken und gut finden würden. Kreativität und Innovation brauchen eine gewisse Reibung. Was ich bei Twitter immer wieder erlebe und problematisch finde: „wenn Du in dem Punkt nicht unserer Ansicht bist, dann gehörst Du nicht zu uns“, also eine Spaltung in „für uns oder gegen uns“. Das macht vieles schwierig – gerade für mich persönlich!

* Dem anderen zubilligen, daß er/sie einen guten Grund für sein/ihr Handeln/Äußerungen hat
Das war eine der schwierigsten „Lektionen“ in der Mediationsausbildung. Ich weiß noch, daß wir an dem Samstag nach dem Kurs zu mehreren essen waren und etwas ratlos über diese Frage diskutiert haben. Unser Diskussionbeispiel damals war (wenn ich mich richtig erinnere) ein Überfall auf eine Apotheke, bei der ein Vater ein Medikament für sein krankes Kind haben möchte. Aus Sicht des Vaters ein „guter Grund“ – er möchte, daß das Kind gesund wird. Aus meiner Sicht (und aus Sicht der Apotheke, der Richter etc.) kein guter Grund. Was wir damals herausgearbeitet haben: ich muß den Grund kennen, um das Handeln/die Äußerungen von anderen Menschen zu verstehen – wobei „verstehen“ nicht „akzeptieren“ oder „gut finden“ meint. Wenn man Menschen auf Twitter länger folgt, dann kann man manche Äußerungen aufgrund ihrer Erfahrungen nachvollziehen. Da wo man es nicht kann hat man eigentlich zwei Möglichkeiten: schweigen oder fragen („warum ist Dir das wichtig?/warum machst Du das?“).
Ich persönlich glaube, daß es ein Teil unserer heutigen Probleme ist, daß wir „am Anfang“ nie gefragt haben, warum Menschen sich für bestimmte Ideen begeistern oder warum sie Angst haben. Wir haben immer nur gesagt, daß das „dumm“ ist. Mir hilft es bei vielen Äußerungen mir deutlich zu machen, daß der/die andere einen „guten Grund“ für seine Äußerungen hat, auch wenn dieser Grund für mich kein „guter Grund“ ist.

* Umgang mit Emotionen
Ich habe lange gedacht, daß es hilft, sachlich miteinander umzugehen. Das ist aber kein Schlüssel für „erfolgreiche“ beziehungsweise „gute“ Kommunikation. Es gibt immer Themen, bei denen wir emotional betroffen sind – weil wir Erfahrungen mit dem Thema gemacht haben, weil wir oder Menschen aus unserem Umfeld davon betroffen sind. Ich habe gerade durch Twitter viel über Menschen und ihre Erfahrungen gelernt – fehlende Inklusion, Umgang mit Rassismus zum Beispiel – alles Dinge, die ich persönlich so nie erlebt habe. Ich bin dankbar, daß ich solche Erfahrungen nie machen mußte (ich habe dafür andere Erfahrungen gemacht, die auch nicht alle schön sind). Es ist oft die Emotionalität dieser Äußerungen, die mir das Ausmaß der Qual oder der Angst deutlich macht. Ich möchte diese Tweets nicht missen – nicht weil ich schlechte Erfahrungen von Menschen schön finde, sondern weil ich Dinge und Äußerungen für mich kritisch hinterfragen kann.
Für mich habe ich folgenden Umgang gefunden: wenn Menschen etwas Schöne erleben und davon schreiben, dann freue ich mich mit ihnen, manchen schreibe ich das auch unter den Tweet. Wenn Menschen schlimmes erleben, dann lese ich das, meistens kommentiere ich aber nicht (Ausnahme: Krankheiten/Todesfälle im engeren Twitterumfeld).

* Umgang mit Sprache
Ich selber nutze auf Twitter (und auch sonst) keine Schimpfwörter. Die inflationäre Nutzung von abwertenden Begriffen lehne ich für mich ab und ich zucke auch oft, wenn ich sie in Tweets von anderen sehe. Letztlich kann ich gute Gespräche nur dann führen, wenn ich gute Sprache nutze, zuhöre und mich mit etwaigen Argumenten inhatlich auseinandersetze, nicht mit Abwertung. Eine persönliche Verletzung durch abwertende Begriffe macht ein Gespräch unmöglich. Für mich gehören ganz viele Begriffe dazu (angefangen bei „dumm“, „Dummkopf“ und „Idioten“ bis hin zu strafrechtlich relevanten Äußerungen).
Meine persönlichen Entscheidungen:
– ich fave/retweete keine Tweets, die für mich sprachlich nicht in Ordnung sind – selbst dann nicht, wenn ich den Grundgedanken teile
– ich folge Menschen nicht, in deren Tweets ich eine Vielzahl solcher Begriffe sehe

Ich hoffe, daß ich mit diesen Prinzipien zumindest sprachlich selten „unfair“ bin.

6. Und nun?
Arno Peper hat vorgeschlagen, Menschen auf unfaire Sprachnutzung hinzuweisen. Das finde ich schwierig, zumal die Frage, was ich empfinde ja nichts mit dem Empfinden der Gesprächspartner zu tun haben muß und es eben keine eindeutige Definition für „unfair“ gibt.

Was ich mir vorstellen könnte (hatte ich schon als Tweets geschrieben):
– eine Blogparade, um Ideen zu diesem Thema zu sammeln
– eine Art freiwillige Selbstverpflichtung zum fairen Umgang miteinander (so etwas wie die X Prinzipien des fairen Umgangs)
– selber mit dem Hashtag um fairen Umgang zu bitten, wenn ich mich in einem Gespräch „angegriffen“ fühle

Die Bremer Stadtmusikanten…..

Vor knapp einer Woche war ich in Bremen – zur Museumsnacht aber auch um in Ruhe die Ausstellung „Tierischer Aufstand“ zum 200jährigen Jubiläum der Veröffentlichung dieses Märchens der Gebrüder Grimm in gedruckter Form zu besuchen. In der Ausstellung ging es um viele unterschiedliche Aspekte – den Ursprung, die Entwicklung des Bildmotivs und auch um die Bedeutung der tierischen Stadtmusikanten an sich. Das verführte mich dazu, auf Twitter folgende Frage zu stellen:

„Weil ich gerade in der Ausstellung war: mit welchen Eigenschaften verbindet Ihr die Bremer Stadtmusikanten?“

Auf diese Frage bekam ich viele spannende und unterschiedliche Antworten!
– Solidarität
– rüstig, mutig, klug, solidarisch. Geradezu prädestiniert für eine Senioren-WG
– Standfestigkeit
– Vorzüge des Älterwerdens
– Überlebenswille, Fähigkeit zu Visionen, Solidarität, Spaß
– stapelbare Tiere, die es geschafft haben zusammen zu singen, statt sich aufzufressen
– Vernunft und Mut
– die Gewißheit, alles zu überstehen, was das Leben einem zumutet. Die Zuversicht, es ins Gute wenden zu können. Überlebenswille, ein bißchen Anarchie (Protestsongs, Hausbesetzung)
– wie wir heute mit alten Menschen umgehen
– Cirque de Soleil, akrobatische Leistung
– der Esel trägt die ganze Last und der Gockel kräht nur Mist. Esel = Unternehmer, Gockel = Politiker
– Stapelfähigkeit
– vielfältig, hungrig, lebensmutig
– Zuversicht, Mut, Selbstwert
– coole Alten-WG
– Verzweiflung, grenzenlose Naivität, Glaube und Unwissen, Verdrängung zum eigenen Nutzen. Kein Zukunftsplan. Gewalt zur Durchsetzung der Erhaltung der derzeitigen unklaren Situation
– Gentleman, senil, assi, Schlafstörung
– stapelbar
– gut zu stapeln

Warum ich diese Frage gestellt habe? In einem Raum der Ausstellung hing ein Text, der auf folgende Eigenschaften der „Bremer Stadtmusikanten“ hinwies: Mut, Solidarität und Empathie. Ich gebe zu, daß ich über diese Frage vorher nie nachgedacht habe. Erst wollte ich einfach nur schreiben, daß diese drei Eigenschaften in der Ausstellung mit den Bremer Stadtmusikanten verbunden werden. Aber dann fand ich es viel spannender, diese Frage weiterzugeben.

Was bedeuten mir die Antworten?
Ich war über die Vielzahl und die Vielfalt der Antwort sehr überrascht. Wohlgemerkt positiv überrascht!

Es gab bei den Antworten für mich mehrere Ebenen.
Am offensichtlichsten war irgendwie die Bildebene – akrobatische Leistung, stapelbar. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, daß wir das Märchen sehr stark mit dem Bild genau der Szene, als die Räuber durch die aufeinander „aufgestapelten“ Tiere erschreckt werden und fliehen, verbinden. Es ist interessant, daß die Darstellung der Tierpyramide in England mit der Zeichnung von George Cruikshank begann. Aber ist das wirklich der Kern der Geschichte?

Die (aus meiner Sicht) zweite Ebene beschäftigte sich mit den Tieren in ihren „übertragenen“ Rollen – der Esel als Unternehmer, der die ganze Last trägt, Senioren- oder coole Alten-WG.

Besonders interessant aber auch nachdenklich gemacht hat mich die (aus meiner Sicht) dritte Ebene, in der es um „nicht-tierische“ Eigenschaften oder Werte ging – Mut, Solidarität, Zuversicht, Selbstwert, Vernunft, Vorzüge des Älterwerdens aber auch Verzweifelung, Naivität, Unwissen. Es war eine unglaubliche Vielfalt der Äußerungen – von sehr positiven Vorstellungen, dem Gedanken, daß alles irgendwie gut wird zu negativen Gedanken wie Naivität, Verzweiflung und Unwissen.
In der Ausstellung selbst standen übrigens „Solidarität, Mut und Empathie“ als Eigenschaften.

Ich habe die Frage an dem Abend vor der Europawahl am 26.05.2019 gestellt. Die Vielzahl und Vielfalt der Antworten hat mich sowohl an dem Abend als auch am folgenden Tag sehr beschäftigt. Was könnten wir von den Bremer Stadtmusikanten für uns und unsere Gesellschaft lernen? Ich hatte bei den Antworten sehr stark den Eindruck, daß die Solidarität zwischen den unterschiedlichen Tieren, die mit dieser Unterschiedlichkeit verbundene Vielfat und der Mut sich auch im Alter auf Neues einzulassen, gerade „jetzt“ wichtig und wertvoll sind. Deshalb habe ich mich entschlossen Eure Antworten in diesem Beitrag zusammenzufassen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß dieses Märchen auch heute mehr Bedeutung hat als nur „ein Jubiläum der Veröffentlichung“. Aber das muß ich erst einmal sacken lassen …..

Herzlichen Dank an @tasso2000, @_phoeni, @jjwieneke, @peterbreuer, @mai17lad, @prxpragma, @kleiner_Komet_, @Zonkey_von, @achtuhrkatze, @Iris_Rohmann, @VollVIP,@DerWischmopp, @EkiamRel, @abertrotzdem, @unteralt, @Manjol, @mashirojin, @Estezeh, @shiftatK und @whoofhausen für die Antworten, die mich zu diesem Blogbeitrag inspieriert haben!

Worte, die weh tun

Dieses Jahr mußte ich bei Twitter viele DMs und Tweets lesen, die mir weh getan haben, sehr weh sogar.

Ende Juni fing es an. Derjenige, der einige Tage lang so getan hatte, als ob er meine Gefühle erwidert, schrieb mir in einer DM „Ich kann nicht sein, was Du Dir wünschst.“ Aber Freundschaft konnte er sich angeblich vorstellen. Es fiel mir schwer, es tat mir unendlich weh, aber ich ließ mich darauf ein, nur um kurz danach sinngemäß zu lesen, daß die Gegenseitigkeit in Gesprächen aber auch bei Gesprächsanfängen eine zu hohe Erwartung sei. Ich schluckte sehr schwer. Es folgte noch ein weiterer Tweet, der mich sehr verletzt hat. Man kann das ausführlich in meinen Blogbeiträgen vom Monat November nachlesen.

Natürlich gab es von vielen – gerade auch über Twitter – tröstende Worte. Aber tröstende Worte nehmen nicht den Schmerz, heilen keine Wunden und vertreiben auch nicht die dunklen Gedanken. Relativ früh hatte ich das Gefühl, daß ich es mit dem Thema „Liebe und Beziehung“ nicht mehr probieren wollte. Ich glaube nicht, daß irgendjemand das im Sommer verstehen konnte. Immer wieder bekam ich – den durchaus lieb gemeinten – Hinweis „bleib offen“. Ich wollte aber nicht „offen bleiben“, im Gegenteil! Irgendwann habe ich mir die Frage gestellt, warum mir diese Geschichte so wahnsinnig weh tut und warum ich es einfach nicht mehr probieren möchte und ich mußte mir eingestehen, daß es in meinem Erwachsenenleben nie „Liebe/Beziehung“ gab. Es gab nie jemanden, der zu mir „ja“ gesagt hat, es gab nie jemanden, dem ich im Bereich „Liebe/Beziehung“ wichtig war, es gab immer nur Abweisungen und Verletzungen. Wenn ich von Abweisungen und Verletzungen spreche, dann meine ich auch nicht die Situation, daß man einseitig für einen anderen Menschen mehr empfindet, der aber selber gar kein Interesse hat. Ich meine tatsächlich Abweisungen und Verletzungen aus einer zumindest kurzen tatsächlichen oder behaupteten Gegenseitigkeit.

Die Erkenntnis tat weh, sehr weh. Sie fiel mit meiner Twitterauszeit im September und Oktober zusammen und ich habe sehr viel nachgedacht, gegrübelt, gezweifelt, geweint. Ich habe mich gefragt, ob es an mir liegt? Ob ich etwas in meinem Leben falsch gemacht habe? Aber diese Fragen waren nicht hilfreich. Die Vergangenheit kann ich nicht ändern und für die Zukunft haben sie keine Bedeutung, keine Bedeutung mehr.
Ich habe unter den Abweisungen und Verletzungen in diesem Jahr sehr gelitten. Vermutlich hat das mehr mit mir zu tun als mit demjenigen, der mich abgewiesen und verletzt hat. Aber so nach und nach haben sich für mich einige Aspekte herauskristallisiert:

*ich hätte gerne in meinem Leben „Liebe und Beziehung“ erlebt, aber es sollte nicht sein.
*ich habe keinen Mut, es noch einmal zu probieren – eben weil es nie eine Sicherheit geben kann, daß in einem Moment der (behaupteten) Gegenseitigkeit nicht doch eine weitere Abweisung/Verletzung erfolgt.
*nach 100% Abweisungen und Verletzungen habe ich auch keine Hoffnung mehr, daß es jemals anders sein könnte. Warum auch? Meine 100%-Quote ist durchaus eindrucksvoll!
*ich habe Angst, bei einer weiteren Abweisung/Verletzung zu zerbrechen.

Ich habe mich entschlossen, mit diesem für mich sehr schmerzhaften Thema offen umzugehen. Daher schrieb ich gestern – angeregt von einem (von mir auch zitierten) Tweet von Dunja Voos – einen Tweet mit folgendem Text:
„So geht es mir mit dem Thema „Liebe/Beziehung“. Wann ich diesen Gedanken wohl wieder loswerde?“

Dieser Tweet löste – mal wieder – ein ausführliches Gespräch aus. Ich weiß aus einigen anderen Gesprächen, daß Menschen meine Gedanken nicht nachvollziehen können. Das ist auch völlig in Ordnung so. Wer irgendwann in seinem Leben eine positive Erfahrung gemacht hat, wird immer eher denken, daß es „wieder“ gut werden kann. Mir fehlt diese positive Erfahrung!
Ich sehe auch durchaus, daß Menschen, die sich zum Thema äußern, mir „helfen“ wollen, daß sie etwas Gutes und Schönes im Sinn haben. Allerdings entwickelte sich dieses Gespräch dann in eine Richtung, die mir wiederum sehr weh getan hat. Ausgangspunkt meines Tweets war ganz deutlich das Thema „Liebe/Beziehung“. Das Gespräch war – bis zu einem bestimmten Punkt durchaus gut, auch wenn es für mich keinen Grund gab meine – auf schmerzlichen Erfahrungen basierende – Meinung zu ändern. Noch harmlos war der Vorwurf, daß es nur an meiner Einstellung liegt. Ich schrieb zunächst:
„Ich weiß, daß Deine Anregungen (so wie die vieler anderer) lieb gemeint sind u ich freue mich über die Mühe, die Du Dir damit machst. Aber wenn es wieder schiefgehen würde (u das ist sehr wahrscheinlich), stehe ich wieder ganz alleine vor den Scherben u niemand kann mir helfen.“
Darauf erhielt ich die Antwort:
„Das Leben ist keine mathematische Folge oder es handelt sich auch nicht um eine Beweisführung mit der vollständigen Induktion.
Jedes „Scheitern“ der Vergangenheit hat keine direkte Konsequenz auf einen neuen, unabhängigen Versuch in der Zukunft.
Außer durch deine Einstellung.“
Ja, das kann man so sehen, ich sehe das halt anders.

Dann wurden mir – unter meinem Tweet zum Thema „Liebe /Beziehung“ Selbstbezogenheit, Nichtbeachtung des Gegenübers, Monolog, Kälte und Interesselosigkeit vorgeworfen. Warum? Weil ich – trotz aller Argumente – nicht den Sinn sah, es noch einmal zu probieren.

Am schlimmsten fand ich den Vorwurf fehlenden Mitleids, der auch hier zum Tragen kam. Das tat wirklich weh. Was hat der Umgang mit dem frühen oder besonders schmerzhaften Verlust von Eltern bei anderen Menschen mit meinem Tweetthema zu tun? Warum müßte mein Mitgefühl mit dem Leid anderer Menschen dazu führen, daß ich meine Meinung ändere und immer wieder etwas versuche, was in meinem Leben nie gut war und was dazu führen könnte, daß ich zerbreche?

Der letzte Teil dieses Gesprächs hat mir sehr weh getan! Ich verlange nicht, daß irgendjemand mich versteht. Ich verlange auch nicht, daß irgendjemand meine Meinung teilt. Ich gehe nicht einmal davon aus, daß irgendjemand Mitleid mit mir haben muß. Ich bin durchaus bereit, die Ansichten anderer Menschen zu lesen und anzuhören. Ich denke auch über die Ansichten, die in solchen Gesprächen geäußert werden nach. Niemand muß mich mögen, niemand muß mich sympathisch finden. Aber diese Vorwürfe, weil ich meine Meinung zu einem für mich sehr schmerzhaften Thema nicht ändere?
Nein, wirklich nein. Ich bin froh, daß es mir mittlerweile so gut geht, daß ich den letzten Teil dieses Gesprächs nicht persönlich nehme. Weh getan haben mir diese Worte trotzdem – eben auch, weil sie keinerlei hilfreichen Inhalt hatten. Sie haben mich nur verletzt, sie haben mich nicht nachdenklich gemacht! Schade, nicht wahr?

Verrannt? Verrannt!

Vorhin habe ich einen Tweet gelesen, in dem es um das „emotionale Verrennen“ ging. Ich weiß nicht, ob ich mit diesem Tweet gemeint war, aber ich fühlte mich angesprochen. Es war sozusagen ein „Triggertweet“ und jetzt sitze ich bei einem kurzen Orgelkonzert in der Stralsunder Marienkirche und schreibe.

Ja, ich habe mich in den letzten Wochen verrannt und zwar so sehr wie schon lange nicht mehr.
Ich habe mich verrannt, weil ich meinen Gefühlen vertraut habe.
Ich habe mich verrannt, weil ich an das Bestehen übereinstimmendender Gefühle geglaubt habe.
Ich habe mich verrannt, weil ich diese Zeit als ein zartes und kostbares Geschenk angesehen habe, das man nicht einfach wegwirft.
Ich habe mich verrannt, weil ich wirklich schönen Worten vertraut und geglaubt habe.
Ich habe mich verrannt, weil ich mich für meine Gefühle entschieden habe.
Ich habe mich verrannt, weil ich die Vertrautheit und die Gespräche für etwas Besonderes hielt.
Ich habe mich verrannt, weil ich selbst nach der Abweisung entgegen meiner Gefühle und Bedürfnisse eine Freundschaft wagen wollte.
Ich habe mich verrannt, weil ich den Gesprächsfaden als Basis einer Freundschaft wahren wollte.
Ich habe mich in so vielem verrannt, das ich nicht einmal mehr weiß, wo ich wirklich stehe.

Eins möchte ich aber auch klarstellen: in all meinen Tweets und Beiträgen wollte ich immer nur schildern, wie es mir geht, wie ich die (für mich sehr traurige und belastende) Situation empfunden habe. Es ging und geht nicht darum, ob er etwas falsch gemacht hat. Die Situation ist wie sie ist. Ich weiß nicht, wie es ihm geht. Ich weiß nicht, wie er mit der Situation und seiner Entscheidung umgeht. Ich weiß nicht, ob er traurig ist. Ich weiß nicht, ob für ihn ein Gespräch mit mir noch möglich oder wünschenswert wäre.
Aber: ohne Gespräch werde ich das auch nie erfahren und nachdem ich mich in den letzten Wochen schon ständig verrannt habe, bin ich nicht in der Lage, ein Gespräch zu beginnen. Ich hätte zuviel Angst mich schon wieder zu verrennen.

Der gerissene Gesprächsfaden

Ich bin gescheitert. Schon wieder. Und in einem gewissen Sinne ist dies die Fortsetzung von „Wie offen darf es sein“. Dort berichtete ich vor kurzem, wie ich mit meinem Gefühl der Verliebtheit gescheitert bin. Er sagte damals, er wünsche sich Freundschaft mit mir. Ich habe einige fürchterliche Tage (und schlaflos durchtwitterte Nächte) zugebracht. Wer meine Tweets in der Zeit vom 23.06.2018 bis zum 01.07.2018 mitverfolgt hat (oder jetzt nachliest) wird das bestätigen können. Aber ab dem Sonntagnachmittag ging es mir besser und ich war – entgegen meiner „üblichen“ Vorgehensweise – bereit, mich auf das Experiment Freundschaft einzulassen.

Freundschaft braucht Gespräche
Es klingt fürchterlich banal, wenn ich hier schreibe, dass Freundschaft Gespräche braucht. Das, was so einfach und banal klingt, war für mich in der Zeit ab dem 23.06.2018 die größte Hürde. Aus einem persönlichen Treffen in Hamburg hatten sich wunderbare DM-Gespräche entwickelt. Wunderbar deshalb, weil diese Gespräche eine geradezu spielerische Leichtigkeit und Themenvielfalt hatten, die mir so noch nicht begegnet ist. Ich hatte das Gefühl mit einem Menschen zu sprechen, der eine wunderbare Seele hat – es war das Gefühl, einer verwandten Seele begegnet zu sein. Und irgendwann schlich sich (ohne dass ich es sofort bemerkt habe) ein Gefühl der Vertrautheit und Verliebtheit ein. Ja, großer Fehler und leider einseitig. Ich habe in den letzten Wochen einen ziemlich hohen Preis dafür gezahlt, dass ich mir meine Gefühle eingestanden habe und auch ihm gegenüber ehrlich war.

Der Inhalt der Gespräche hatte – bis auf minimale Ausnahmen – nie etwas mit diesen Gefühlen zu tun. Eine Freundschaft hätte also auf der Basis dieser spielerisch leichten und guten Gespräche ansetzen können. Wenn es da nicht die Schere im Kopf gegeben hätte…..

Die Schere im Kopf
Ja, die Schere im Kopf. Mit sehr vielen Menschen kann ich auch jetzt locker und leicht plaudern, witzige Gespräche und Diskussionen führen. Aber ihm eine DM zu schreiben war nicht nur schwierig, es war regelrecht eine Qual. Mein innerer Zensor nahm jede angedachte DM präzise auseinander. Zu unwichtig, das interessiert ihn nicht, das geht ihn nichts, warum willst Du ihm das schreiben…… sind nur eine kleine Auswahl der vielen Antworten meines Zensors. Mit jedem Tag wurde es schwieriger, irgendwie überhaupt im Gespräch zu bleiben. Eine Information zu Kafka nach dem Besuch einer Lesung – ja, das ging und daraus entspann sich auch ein kurzes und durchaus gutes Gespräch, an einem anderen Tag eine Information über ein absolut lesenswertes Buch, das ich an dem Tag selbst gelesen hatte – ja, ging für meinen Zensor, führte jedoch nicht zu einem Gespräch. Ich merkte, dass es mir jeden Tag schwerer fiel, im Gespräch zu bleiben. Gleichzeitig wußte und fühlte ich, dass ich einen einmal gerissenen Gesprächsfaden nicht wieder aufnehmen könnte. Ich behalf mir daher mit „nichtssagenden“ Guten-Morgen- und Gute-Nacht-DMs. Und mit nichtssagend meine ich, dass ich an vielen Tagen tatsächlich nur „Guten Morgen“ oder „Gute Nacht“ in die DM geschrieben habe. Mal kamen Antworten, mal nicht, selten kamen kurze Gespräche zustande.

Die Glaswand
Im öffentlichen Bereich von Twitter erlebte ich seine Tweets so eloquent wie eh und je. Nur im DM-Austausch mit mir kam es nicht mehr zu den spielerisch leichten und fröhlichen Gesprächen. Als ich während meiner kurzen Pause (kleiner Kurzurlaub) darüber nachdachte, fiel mir das Buch „Die Wand“ von Marlene Haushofer ein. Die Ich-Erzählerin stellt in der Geschichte fest, dass sie durch eine Glaswand von der restlichen Welt abgetrennt ist, sie muss ab diesem Moment ganz alleine zurechtkommen. So drastisch ist meine Situation glücklicherweise nicht – aber zwischen ihm und mir und befindet sich eine Glaswand, die für mich mittlerweile völlig undurchdringlich geworden ist. Ich plauderte (außerhalb der kurzen Pause) mit vielen Menschen, wenn ich ihn konkret „ansprach“ (sozusagen mit einer DM oder einem Tweet in dem er namentlich erwähnt war an die Glasscheibe klopfte) kam es gelegentlich noch zu einem Austausch, aber eher im öffentlichen Bereich von Twitter mit anderen zusammen, immer seltener als DM-Gespräch. Ich merkte zusehends, dass er mich nie von sich aus ansprach und dass, obwohl er den Wunsch nach Freundschaft geäußert hatte.

Der Riss
Es kam, wie es wohl kommen mußte, der Gesprächsfaden riss. Letztlich war es ein kleiner Tropfen, der bei mir das Fass zum Überlaufen und den Gesprächsfaden zum Reissen brachte. An einem Sonntagmorgen hatte ich mich überwunden ihn zu fragen, was er denn an dem Tag vorhabe. Ja, ich bekam eine kurze Antwort. Es kam aber kein „Und Du?“ und so erzählte ich nichts von meinen Plänen für den Tag. Ich ging an diesem Tag in Düsseldorf in die Ausstellung „Black & White“ und in der (grauen) Installation von Hans Op De Beek wurde mir bewußt, daß ich die Kommunikation mit ihm als einseitig, kalt und völlig desinteressiert empfand. Ich habe die Kommunikation mit einem Menschen, der von sich selbst behauptet, sich eine Freundschaft mit mir zu wünschen, noch nie als so kalt, abweisend, einseitig und desinteressiert empfunden. Und es war so völlig anders als in der Zeit nach dem Treffen in Hamburg.
Da stand ich nun in diesem grauen Zimmer und dachte über graue Kommunikation nach. Mir wurde klar, dass ich keine DMs mehr schreiben wollte – wozu auch, wenn daraus ohnehin kein gutes Gespräch entsteht.
Am folgenden Tag habe ich meine Erkenntnis in einem öffentlichen Tweet mit folgenden Worten zusammengefasst:

„Erkenntnis des Wochenendes: Freundschaft kann nur da entstehen/wachsen, wo beide ein ehrliches Interesse am Leben des anderen haben und zeigen. Einseitigkeit tötet den Gedanken der Freundschaft, dann ist es bestenfalls lose Bekanntschaft, wenn man sich zufällig (zB hier) begegnet.“

Das letzte DM-Gespräch
In diesem Tweet (der auch zu einem spannende Gespräch mit einem anderen Twitterer führte) lag nicht nur meine Erkenntnis, sondern auch meine „Handlungsentscheidung“. Ich habe ihm diesen Tweet zwei Tage später in einer DM verlinkt und daraus ergab sich ein letztes trauriges Gespräch. Er sprach von unterschiedlichen Bedürfnissen, fühlte sich anscheinend völlig mißverstanden und bat mich seine Bedürfnisse (die er vorher nie formuliert hätte) nach wenig Kummunikation/Reaktion zu akzeptieren. Ja, auch ich fühlte mich völlig mißverstanden – und zwar von ihm. Ich hatte tatsächlich gehofft, eine Freundschaft aufbauen zu können.

Und nun?
Nullpunkt. Schweigen, und zwar völliges Schweigen. Ja, ich weiß – von einem Nullpunkt aus kann sich zumindest theoretisch auch wieder ein Kontakt entwickeln. Aber es ist paradoxerweise so, dass ich nichts einfach so von mir erzählen möchte und er nichts fragen wird. So werden wir im Schweigen verharren und vielleicht kann man dann irgendwann ergänzen „und wenn sie nicht gestorben sind, dann schweigen sie noch heute“.
Ich weiß nicht einmal, ob ich dieses Schweigen möchte, ich weiß nur, dass ich es nicht durchbrechen kann – das ist einer der wenigen Punkte, wo ich nicht aus meiner Haut heraus kann…. Ich weiß nicht einmal, ob ich ihn überhaupt auf diesen Beitrag hinweisen werde.

Warum ich das alles schreibe? Vielleicht liest er das und kann dann wenigstens meine Reaktionen verstehen und vielleicht ist es für den einen oder anderen Leser ja auch einfach so interessant.

Anmerkung: Links werden nach der kurzen Pause ergänzt.

Twitternde Bildungsbürger?

Meine Twittertimeline ist – glücklicherweise – bunt gemischt. Es gibt Menschen, die sich im Moment über politische Themen austauschen (und durchaus auch aufregen); es gibt Menschen, die sich in vielfältiger Weise in Projekten engagieren und darüber berichten; es gibt Menschen, die ihre Social-Media- oder auch Gründungserfahrungen teilen; es gibt Menschen, die über kulturelle Themen twittern und es gibt Menschen (wie zum Beispiel mich), die sich gerne in Diskussionen zu Büchern und Literatur tummeln. Aus einer solchen Diskussion – einem ziemlich langen Thread – entstand eine Diskussion über „Bildungsbürger“, ein Begriff der mich stört und den ich ablehne.

Der Ausgangspunkt ……
Ausgangspunkt war am 4. Juli dieser Thread: ich hatte einen Tweet retweetet und daraus ergab sich eine Diskussion über gute Autoren zwischen mir, dem @itbeobachter, dem @pjakobs und später noch @dknake. Im Verlauf des Threads landeten wir über eine „Auflistung“ guter Autoren, der Suche nach einer Autorin (Marianne von Willemer, die ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte), Fässern („willst Du dieses Faß auch noch aufmachen“) schließlich beim Lateinlernen und bei Ovid (genauer den Metamorphosen des Ovid). Es war eine nette kleine Diskussion unter Menschen, die anscheinend gerne lesen.
Aufgrund der Diskussion habe ich mir mehrere Bücher bestellt – eine Sammlung von lustigen Gedichten, zwei Kriminalromane, die mir per DM vom @itbeobachter empfohlen wurden und die Metamorphosen des Ovid in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß (ich wollte es nicht online lesen). Aus meinem Tweet über die Bestellung ergab sich dann wieder ein längerer Thread über gute Literatur unbedingt zu lesende lateinische Werke (in deutscher Sprache), in dem @pjakobs plötzlich einen Satz äußerte, der mich massiv störte und verstörte, nämlich: „Gott was sind wir doch für Bildungsbürger“.

Ich eine Bildungsbürgerin?
Ich ließ den Satz in dem Thread einen Moment sacken und dachte sofort: nein, das bin ich nicht. Ich bin keine Bildungsbürgerin. Alles in mir stellte sich bei dem Gedanken quer. Nicht, daß ich nicht an Bildung interessiert bin – im Gegenteil. Ich finde die Idee, ein Leben lang zu lernen, großartig und ich glaube ich, daß ich das tatsächlich lebe. Ich lese viele Bücher – Sachbücher genauso wie Romane, Theaterstücke genauso wie Essays. Ich gehe gerne und im Moment auch relativ oft ins Theater, ich besuche Ausstellungen und ich informiere mich über viele Themen. Aber Bildungsbürgerin? Nein, etwas in mir sperrte sich ganz stark.
Ich habe es später in dem Thread für mich wie folgt formuliert: „Belesen ja, neugierig ja, halbwegs gebildet ja, vielfältig interessiert ja – das sind meine Ziele!“
Der eine oder die andere mag das durchaus als „Bildungsbürgertum“ verstehen, für mich ist das aber etwas anderes. Schon aufgrund meiner Herkunft paßt der Begriff „Bildungsbürgertum“ nicht. Meine Mutter war ungelernte Arbeiterin – sie hat mich immer unterstützt, wenn es um Bildung ging – und dementsprechend sind viele „klassische“ Bücher erst bei uns „eingezogen“, als ich diese haben wollte. In den Regalen im Wohnzimmer standen Werke von Konsalik, die mein Vater gerne las und ein paar Bücher aus dem Bertelsmann Club Sortiment. Außer den typischen Kinderbüchern (zum Beispiel Märchen von den Gebrüdern Grimm und Hans Christian Andersen) – die ich natürlich geschenkt bekam – zogen erst mit meinen ersten ausgeprägten Lesewünschen „Klassiker“ bei uns (beziehungsweise in meinem Bücherregal) ein.
Irgendwann in den späten siebziger Jahren wurde die Verfilmung des Buches „David Copperfield“ von Charles Dickens als weihnachtlicher Mehrteiler gezeigt. Wie habe ich diesen Film geliebt! Und wie habe ich mich gefreut, als ich dann zum nächsten Geburtstag von meinen Eltern das Buch geschenkt bekam. Ich habe es in den Jahrzehnten, seitdem ich es geschenkt bekam, x-fach gelesen und der Bucheinband zeigt (obwohl ich immer sehr pfleglich damit umgegangen bin) deutliche Gebrauchsspuren. So kam Charles Dickens als erster Klassiker in mein Leben. Goethe, Schiller und Shakespeare kamen erst später dazu, dazwischen schaffte es noch Theodor Storm mein Herz zu erobern und nahm mit einer mehrbändigen Ausgabe seinen Platz im Regal ein.
Heute ist im Regal kaum noch Platz (nein, das ist die Untertreibung – viele meiner Bücher sind im Moment ausgelagert und ich habe viele erst vor kurzem aus ihrem Karton-Zwischenlager befreit und in ein Regal gesteckt). Ja, heute würde ich durchaus sagen, daß ich belesen bin und man findet viele Klassiker unter diesen Werken. Aber damals – damals waren die Voraussetzungen anders und ich habe meine „Lesewelt“ nach und nach erst aufgebaut.

Kommt es nicht auf die Entwicklung an?
Meine Ablehnung des Begriffs „Bildungsbürger“ konterte @pjakobs mit dem Einwand, daß wir alle uns ja seit der Schulzeit entwickelt haben. Das ist sicherlich richtig und ich würde für mich durchaus in Anspruch nehmen, daß ich mich gerade in den letzten drei Jahrzehnten (ja, solange ist die Schulzeit schon her) sehr stark entwickelt habe – in meinen Interessen, in den Büchern, die ich lese aber auch ganz allgemein in meiner Persönlichkeit. Ich bin nicht mehr die Astrid, die 1988 das Abitur gemacht hat und dann nach Köln an die Uni gegangen ist. Aber manche Dinge ändern sich trotzdem nicht. Ich kann und will meine Herkunft weder ablegen noch verleugnen, zu manchen Dingen oder Themen fehlt mir manchmal auch der Zugang, weil es nicht zu meinem Alltag gehörte. Menschliche Entwicklung ist wichtig – sehr wichtig sogar – aber sie macht aus einem neugierigen und interessierten Menschen eben auch noch keinen Bildungsbürger – finde ich zumindest.

Warum mich der Begriff „Bildungsbürger“ stört
Für mich hat der Begriff „Bildungsbürger“ etwas Trennendes und Ausschließendes – es gibt die Menschen, die mit einem bildungsbürgerlichen Alltag in einem bildungsbürgerlichen Haushalt aufgewachsen sind. Das ist schön und ich möchte das auch gar nicht negativ bewerten. Aber es gibt auch „die anderen“ und zu diesen anderen gehöre ich. Es macht mich betroffen, daß mein Lernen und meine Entwicklung einfach nur ein „jetzt bist Du auch auf der Stufe der Bildungsbürger angekommen“ darstellen sollen. Ich werde in diesem Moment nicht um meiner selbst oder aufgrund meiner Lernanstrengungen und Lernerfolge „gewürdigt“, sondern nur, weil ich – endlich – einem vermeintlichen Bildungsideal entspreche (nein, ich entspreche diesem Ideal nicht – ganz und gar nicht). Es ist irgendwie die falsche Anerkennung für das falsche Ziel oder das falsche Bild von mir. Und ja, das stört mich – weil die Offenheit für unterschiedliche Lebenswege und unterschiedliche Interessen fehlt.

Und Ihr?
Wie seht Ihr das? Seht Ihr Euch als Bildungsbürger? Könnt Ihr mit dem Begriff etwas anfangen? Ich bin neugierig und würde mich freuen, Eure Ansicht zu diesem Thema hier oder bei Twitter zu lesen!

Wie kommen wir ins Gespräch?

Manchmal gibt es sie – die guten Gespräche – im „analogen“ Leben aber auch auf Twitter. Und manchmal versuchen wir alles Mögliche, um ein Gespräch zu beginnen und es klappt nicht. Kommunikation ist – so selbstverständlich sie zum menschlichen Leben gehört – immer schwierig. Nicht umsonst gibt es im Moment in Hannover sogar eine Sonderausstellung zu diesem Thema – noch bis zum 19.09.2018.

Ein Gespräch – ja will ich das denn?
Es gibt – online wie offline – durchaus Momente, ich denen ich kein Gespräch führen möchte. Manchmal bin ich einfach zu müde (besonders am frühen Morgen), manchmal kreisen meine Gedanken um ein Problem, manchmal möchte ich auch einfach nur meine täglichen drei Seiten schreiben oder etwas in Ruhe lesen. Das sind durchaus Momente, in denen ich gerne bei Twitter „hereinschaue“ – aber halt eher lesend und konsumierend. Selten schafft man in diesen Momenten, mich in ein Gespräch zu ziehen. Wer es trotzdem versucht (vor allem im analogen Bereich) wird dann möglicherweise auf wenig begeisterte Reaktionen treffen. Gespräche abblocken kann ich eigentlich ganz gut – meist auch halbwegs freundlich. Andererseits kann man mich manchmal (ja, ok, meistens) mit interessanten Themen oder Fragen ganz schnell ködern ………

In den letzten Jahren habe ich analog und digital viele interessante Gespräche geführt. Analog zum Beispiel mit BusfahrerInnen (ich wohne an einer Endhaltestelle, da ergibt sich das öfter mal), mit MitarbeiterInnen meines Lieblingssupermarktes (ich wurde nach dem Tod meiner Mutter sogar umarmt und es tat gut) und mit Menschen, die mit mir an Haltestellen warteten. Digital – also für mich vor allem auf Twitter – gab es die witzigen Gespräche (so zum Beispiel den „Ameisenthread“ mit @pjakobs, den ü50-Thread mit @itbeobachter und @pixelkurier, der Musikthread mit @karin1210) und die vielen ernsthaften Gespräche – zum Teil im offenen Bereich, zum Teil per DM, aus denen sich sogar kleine „Projekte“ ergaben, so zum Beispiel das Twittertreffen in Trier mit @thalestria und @mariohanneken und das Fragencafe mit @kontermann. Einzelne kleine oder größere Gespräche, die für sich genommen oft nicht wirklich wichtig waren, sich zufällig ergaben und doch gut waren. Meistens nehme ich mir tatsächlich (und sehr gerne) die Zeit, diese Gespräche zu führen …..

Jeder Tweet ist ein potentieller Gesprächsanlaß!
Ich möchte mich im Folgenden auf „meine Gespräche“ bei Twitter beschränken – eine sehr allgemeine Betrachtung würde ich wohl nicht so schnell in einem einzigen Blogbeitrag unterbringen. In einem kleinen Twittergespräch mit @karin1210 habe ich vor ein paar Tagen geschrieben, daß für mich jeder Tweet ein potentieller Kommunikationsanlaß ist. Das heißt natürlich nicht, daß ich jeden Tweet aufgreife – aber wenn ich ein Gespräch suche, dann schaue ich nach Tweets, die mich zu einer Frage oder einer Antwort anregen. Und klar, je mehr interessanten Menschen man folgt, desto mehr potentielle Gesprächsanlässe finden sich in der Timeline. Ich glaube schon, daß es leichter ist, Gespräche zu führen, wenn man einer größeren Menge an Menschen folgt. Dementsprechend folge ich auch viel mehr Menschen als mir folgen. Twitter hat gerade den Vorteil, daß „Zweiseitigkeit“ nicht Voraussetzung von Gesprächen ist.

Der erste Schritt….
Gespräche entstehen nicht deshalb, weil Menschen sich – zufällig – am selben Ort befinden. Ein Mensch muß immer irgendwie den Anfang machen. Und auch wenn jeder Tweet ein potentieller Gesprächsanlaß ist, so führt eben nicht jeder Tweet zu einem Gespräch. Es ist immer noch „erforderlich“, daß jemand den Tweet aufgreift und daduch ein Gespräch entsteht.
Ganz am Anfang meiner aktiven Twitterzeit habe ich mich oft bei Menschen, denen ich folgte, für Links bedankt, habe ihnen Fragen gestellt (im Sinne von „wo kann man das nachlesen“) und habe sie auch retweetet. Daraus haben sich erste Gespräche und beidseitige Kontakte ergeben.
Hilfreich waren auch die vielen „Livetweets“ von Veranstaltungen – Konferenzen, Barcamps, Twittwoche – Menschen haben oft auf die Tweets von diesen Veranstaltungen reagiert und wir sind über die Themen ins Gespräch gekommen.
Was ich relativ oft mache: „Gesundheitstweets“ sind für mich in der Regel (vor allem bei Menschen, denen ich schon länger folge oder die ich persönlich kenne) ein wichtiger Hinweis, wie es dem-/derjenigen geht. Meistens nehme ich mir daher die Zeit, ein kurzes „gute Besserung“ oder „alles Gute“ bei Krankheiten, Zahnarztbesuchen etc. zu schreiben. Solche Antworten erwarten die Menschen, die solche Nachrichten twittern, vielleicht gar nicht – aber ich finde es auch schön, wenn jemand mir in nicht ganz so schönen oder gar schwierigen Seiten per Tweet zur Seite steht und mir alles Gute wünscht. Ich habe durchaus den Eindruck, daß solche Antworten zumindest für den Moment ein Gefühl der menschlichen Nähe und Verbindung aufbauen. Und was können wir mit einem Tweet mehr ereichen?

In laufende Gespräche einsteigen ….
Eine weitere Möglichkeit, auf die Ruth am Sonntag hingewiesen hat, ist auch in laufende Twittergespräche einzusteigen. Das habe ich natürlich auch oft gemacht (bin ich jetzt eine Twittergesprächscrasherin?). Die Ergebnisse waren sehr unterschiedlich. Manche dieser Seiteneinstiege haben zu wunderbaren Threads und Folgekontakten geführt – vor allem da, wo ich zumindest einen der „Gesprächspartner“ bereits „kannte“ (es also bereits einen Kontakt auf Twitter gab, der über ein bloßes „ich folge Dir schon“ hinausging), manche Gespräche versandeten, manchmal wurden Gespräche trotzdem ohne mich weitergeführt. Das fühlt sich in dem Moment natürlich nicht toll an, aber man muß sich immer vor Augen halten, daß man selbst ja auch nicht immer mit allen möglichen Menschen sprechen möchte. Wenn mir das mehrfach passiert, dann weiß ich das ich den entsprechenden Personen halt nur lesend folge und das ist dann auch ok.

Mit eigenen Tweets Gespräche anregen…..
Es ist schon merkwürdig. Manche Tweets, die ich schreibe, finde ich fürchterlich wichtig, ich warte sehnsüchtig vor dem Monitor oder dem Handy und ….. nichts passiert. Absolut nichts. Es sind oft die Tweets, die ich persönlich „nervig“, „unwichtig“ oder sogar „schlecht“ finde, auf die die meisten Reaktionen erfolgen. Und ja, je mehr ich schreibe, desto mehr Reaktionen bekomme ich auch insgesamt. Twitter ist ein schnelles Medium. Ein einzelner Tweet geht da schnell unter, oft sind es „Zufallsfunde“, auf die ich selbst reagiere und die dann wiederum zu Gesprächen führen. Wenn mir ein Thema wirklich sehr sehr wichtig ist, dann wiederhole ich das Thema auch nochmal in einem anderen Tweet oder packe es sogar in einen Blogbeitrag. Fragen führen oft, aber nicht immer zu Reaktionen. Oft hängt es an völlig willkürlichen Kriterien wie Tageszeit, Wetter, parallel stattfindende politische Ereignisse, TV-Programm ….. Die wichtigste Erkenntnis ist daher: nicht aufgeben, immer wieder versuchen! Nicht nur für Twitter gilt: steter Tropfen höhlt den Stein!

Was ich underwiderstehlich finde ……
Tweets mit Wortspielereien, mit feiner Selbstironie und Humor, mit kulturell spannenden Themen (z.B. Bücher oder Theater) und mit guten Fragen erobern meine Seele im Sturm – da bin ich sofort dabei! Etwas schwieriger sind politische oder rechtliche Diskussionen. Da lese ich oft eher mit als selbst zu antworten. Gerade aus Tweets zu Wortspielereien oder aus humorvollen und ironischen Tweets haben sich wunderbare Kontakte und Gespräche entwickelt, die ich nicht missen möchte. In meiner Timeline sind glücklicherweise sehr viele Menschen vertreten, die Wortspiele und Ironie mindestens ebenso schätzen wie ich! Welche Bereicherung für meine Timeline und mein Leben!

Und an die vielen lieben, humorvollen, ironischen und interessanten Menschen aus meiner Timeline, die ich hier nicht explizit erwähnt habe: ich danke Euch allen für 9 Jahre wunderbare Twittergespräche und Twitterkontakte!

Und wie kommt Ihr ins Gespräch?
Ich bin ja sehr neugierig ….. Daher möchte ich am Ende dieses Beitrags von Euch wissen, wie Ihr mit Menschen auf Twitter ins Gespräch kommt? Was „funktioniert“ gut, was macht ihr gerne, was klappt nicht? Was ist wichtig, damit es zu guten Gesprächen kommt?
Ja, das sind viele Fragen – aber ich möchte mein „Twitter“ in dem Gesprächskultur wichtiger als Polarisierung ist, gerne bewahren und dazu gehört das Teilen der guten Erfahrungen!

Kann denn Lesen Hobby sein?

Manchmal kommen Themen, die mich interessieren, auf ganz spannende Weise „zusammen“.
Schon seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit „Fragen“ – vor allem mit guten Fragen, die Gespräche eröffnen und ermöglichen, die Nachdenken erlauben und einfordern.
Mittlerweile stoße ich auch immer wieder auf den Gedanken/die Frage, ob wir uns zu sehr mit (vermeintlich) „gewinnbringenden“ Dingen beschäftigen und wie das uns und unsere Gesellschaft prägt. Dazu passend habe ich vor ein paar Tagen begonnen das Buch „Von der Nützlichkeit des Unnützen“ (Untertitel: Warum Philosophie und Literatur lebenswichtig sind) von Nuccio Ordine zu lesen. In diesem Buch stellt Nuccio Ordine anhand von vielen literarischen und philosophischen Beispielen die Gedanken der „Nützlichkeit“ und der „Zielorientierung“ in Frage. Ein sehr spannendes Buch. Man kann sich leicht vorstellen, daß mich gestern die nachfolgenden Tweets sofort zu einer Antwort „reizten“:

Ausgangstweet: Kann man (heute) ein Hobby haben, das man nur seiner selbst wegen ausführt und nicht wegen Erfolg oder Anerkennung? Und ist das sinnvoll?

Zweiter Tweet: Ich frage, weil mir keines einfällt, das nicht wenigstens durch ein wenig Drang nach Anerkennung motiviert ist.

Dritter Tweet: Selbst gelesene Bücher landen häufig im Bücherregal für alle sichtbar. Man redet/bloggt über zuletzt gelesene Bücher.

Hier war sie – die spannende Frage! Und ich habe sofort mit einer Gegenfrage geantwortet:

Mein Antworttweet: Ist das denn schlimm? Ist nicht vielmehr entscheidend, ob ich etwas tue (zB Lesen) weil es mir wichtig ist?

Es folgte – und dafür war die Frage ein sehr guter Ausgangspunkt – eine spannende Diskussion über die Definition von Hobbies, über das Verständnis und die Notwendigkeit von Erfolg, Anerkennung und Zielen und die Abgrenzung zu Begriffen wie Zeitvertreib und Interesse. Wer möchte kann die Diskussionen (es gab noch weitere) hier und hier nachlesen.

Ich nehme diese wirklich gute Diskussion nun als Ausgangspunkt für meinen Blogpost!

Was ist denn eigentlich ein Hobby?
Irgendwann im Laufe des Gespräches tauchte die Frage auf, wie man ein „Hobby“ eigentlich definiert. Ich möchte diese Frage hier an den Anfang stellen, weil das eigene Verständnis des Begriffes „Hobby“ auch viel mit den Inhalten, Anforderungen und Abgrenzungen zu tun hat.

So richtig habe ich mir – vor dem gestrigen Gespräch – nie Gedanken über die Definition des Begriffes gemacht. Für mich war es immer etwas, das mit Entspannung und Freizeit zu tun hat, etwas das ich selbst auswähle. Die Definitionen, die ich gefunden habe gehen auch in diese Richtung – spannend ist dabei die Ableitung vom englischen Wort „hobby horse“ (wieder etwas gelernt!).

Schwierig ist auch die Abgrenzung zum Begriff „Zeitvertreib“. „Zeitvertreib“ empfinde ich in einem gewissen Ausmaß als wertenden Begriff, der irgendwie leicht negativ klingt – ich denke spontan an Langeweile, Zeit totschlagen müssen und Ähnliches. Eine richtige Abgrenzung konnte ich nicht finden, interessant fand ich aber, daß als Synonym für „Hobby“ auch „liebster Zeitvertreib“ angegeben wird. Ja, das paßt schon eher.

Brauchen Hobbies ein Ziel?
Eine verstörende Frage! Ich lese viel und gerne – aber in der Regel ohne ein konkretes Ziel und ohne Gedanken an die „Einsetzbarkeit“ oder „Nützlichkeit“ einer bestimmten Lektüre. Wenn ich etwas lese, lesen möchte – dann mache ich das, weil ich neugierig bin, weil mich das Thema oder der Autor/die Autorin interessiert, weil ich mich gerne mit bestimmten Fragen beschäftige. Das unterscheidet das private Lesen (das ich als „Hobby“ oder auch als „Leidenschaft“ ansehe) vom beruflichen Lesen. Wenn ich eine rechtliche Frage prüfe, dann suche ich natürlich zielgerichtet nach bestimmten Antworten – gibt es zu einer bestimmten Situation schon ein Urteil, hat sich die Rechtslage verändert, wie groß ist das Risiko. Privat – also in meiner Freizeit – lese ich anders. Ich nutze die freie Zeit, um aus einer (ziemlich großen) Auswahl von Büchern und Zeitschriften das zu lesen, was mich gerade in dem Moment anspricht. Natürlich können dann auch Inhalte dabei sein, die beruflich interessant sind oder es später werden, das ist aber nicht mein „Leseziel“ – das ergibt sich „nebenbei“.

Aber drehen wir die Frage für einen Moment um: führt das Festlegen eines Ziels dazu, daß eine Beschäftigung kein Hobby mehr ist? Ich zögere, weil mich die „Zielorientierung“ schon stört. Natürlich kann es Hobbies geben, die (auch) mit einem „Ziel“ betrieben werden – Sport, um den Körper fit zu halten, um sich nach einem anstregenden Tag auszupowern oder um Beschwerden (z.B. Rückenschmerzen) vorzubeugen; Fremdsprachen lernen – um sich in anderen Ländern mit Menschen verständigen zu können. Was überwiegt aber? Der prüfende Blick auf das Ziel oder die Leidenschaft an der Aktivität? Das ist für mich die wesentliche Frage für meine Abgrenzung zwischen einem Hobby und anderen Aktivitäten.

Ein Ziel zu haben führt also nicht notwendigerweise dazu, daß etwas kein Hobby mehr sein kann. Das bedeutet aber noch nicht, daß ein Hobby ein (konkretes) Ziel erfordert.

Lernen oder lesen?
Vielleicht wird an dieser Frage, die sich indirekt aus unserer Diskussion ergab eigentlich klar, warum das Hobby Lesen – zumindest für mich – kein Ziel erfordert. Auf eine bestimmte Art und Weise tauchte in unserer Diskussion die Unterscheidung zwischen Lernen (Wissen aus Sachbüchern erweitern) und Lesen (Romane) auf.

Ein weiterer Tweet:
Weil Sachbücher darauf ausgerichtet sind, das Wissen zu erweitern. Romane, in Welten einzutauchen.

Eine Unterscheidung, die ich nicht teile, die aber durchaus mit der Frage nach dem Ziel zusammenhängt. Lese ich, um zu lernen oder lerne ich, weil ich lese? Der Unterschied mag auf den ersten Blick gering erscheinen, er ist aber größer als man denkt. Der für mich größte Unterschied liegt in der Auswahl der Texte, die ich lese. Wenn ich „nur“ lese, um zu lernen, dann werde ich vermutlich (wie in dem Tweet auch beschrieben) eher Texte auswählen, die zu meinem Lernziel passen. Das können thematisch passende Sachbücher sein, Fachzeitschriften oder Blogbeiträge. Natürlich ist dieses zielgerichtete Lesen nicht schlecht, ganz im Gegenteil – ich freue mich immer, wenn Menschen lesen. Aber Lesen hat für mich noch eine andere Komponente: oft finde ich beim Lesen „Dinge“, die ich gar nicht erwartet hätte und die mich zu neuen Themen, neuen Autoren/Autorinnen und auch zu neuen Büchern und Texten führen. Beim Lesen von Texten, die ich nicht „zielgerichtet“ ausgewählt habe, sondern die mir einfach „gefallen“ oder mich „interessieren“ bewege ich mich abseits meiner eigenen Erwartungen. Das Buch von Nuccio Ordine ist ein gutes Beispiel. Titel und Klappentext haben mich damals, als ich es in einer Buchhandlung gesehen und gekauft habe, angesprochen. Ich habe dort kurz in das Buch hineingeschaut, konkrete Erwartungen hatte ich aber nicht. Umso interessanter ist es nun für mich, daß dieses Buch sich sehr stark in kurzen Kapiteln mit anderen Texten auseinandersetzt. Da sind spannende Querverweise – zum Beispiel zu Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“, den ich demnächst sicherlich lesen werde. Ich genieße es, mich mit Fragen und Texten zu beschäftigen, die eben nicht „notwendig“ sind, die ich beruflich gerade nicht „brauche“, die mich und mein Leben aber bereichern!

Interessanterweise kann ich oft Gedanken oder Themen, die aus meinem reichhaltigen Lesefundus stammen, an anderen Stellen wieder einsetzen und mit beruflichen oder persönlichen Themen verbinden. Das ist nicht mein Ziel beim Lesen und bei der Lektüreauswahl, es ist eher ein positiver und manchmal überraschender „Nebeneffekt“. Es bleibt beim Lesen halt mehr „hängen“, als man so denkt.

Sachbuch oder Roman?
Es war eine interessante Annahme, die gestern in dem Twittergespräch indirekt zutage kam. Wir diskutierten über die Abgrenzung von „Hobby“ und „Zeitvertreib“. Dabei stellte ich die Frage, was das Lesen im Zug eigentlich ist. Antwort: Zeitvertreib. Ich fragte nach, ob das am Ort liegt und bekam die Antwort: nein, Romane lesen ist für mich grundsätzlich Zeitvertreib.

Spannend! Denn ich habe während des ganzen Twittergesprächs zu keinem Zeitpunkt geschrieben, was ich im Zug denn überhaupt lese. Die Annahme an sich (Romane) ist natürlich nicht schlimm, sie ist aber so nicht zutreffend. Wenn die Unterscheidung nach Hobby oder Zeitvertreib tatsächlich auf einem Buchtyp beruhen würde, dann wäre eigentlich die Frage „was liest Du denn im Zug?“ naheliegend gewesen.

Es ist diese Einengung auf wichtige und weniger wichtige Werke, die mich wieder an das Buch von Nuccio Ordine erinnert. Wäre es schlimm und weniger sinnvoll, wenn ich „nur“ etwas Schönes lese? Ein Gedicht, eine Novelle, einen Roman?
Es ist meines Erachtens diese Wertung nach Nutzen und Bedeutung, die Kunst und Kultur immer weiter abdrängt. Gleichzeitig glaube ich, daß wir Kunst und Kultur brauchen, um uns mit unseren Werten, unserer Geschichte und damit auch unserer Zukunft auseinanderzusetzen. Ist ein Buch über Marketing wirklich wichtiger als Der Kaufmann von Venedig? Ich finde beides wichtig und möchte diese Vielfalt und die damit verbundene Anregung auch nicht missen.

Was ist mit Erfolg und Anerkennung?
Ich bin froh, daß ich mal wieder einen längeren Blogpost geschrieben habe. Das Thema hat mich inspiriert und natürlich freue ich mich auch, wenn jemand diesen Blogpost liest – vielleicht sogar bis zum Ende. Aber dabei geht es mir nicht um Erfolg oder Anerkennung, sondern eher um das Aufnehmen oder Weiterführen eines Gesprächs und um das Festhalten meiner Gedanken. Es mag sein, daß sich niemand dafür interessiert. Dann ist das halt so. Und wenn es anders ist, dann ergeben sich daraus vielleicht gute Gespräche. Egal wie, mir ist durch das Schreiben deutlich geworden, wie meine Haltung zu diesem Thema ist.

Noch weniger passen die Begriffe von Erfolg und Anerkennung für mich auf das Lesen selbst. Quantitativ mag Lesen durchaus meßbar sein – in der Zahl der gelesenen Bücher oder gar der gelesenen Seiten. Aber was sagt das für mich wirklich aus? Bin ich „erfolgreicher“ wenn ich in diesem Jahr 10 Bücher mehr lese? Habe ich versagt, wenn es 10 Bücher weniger sind? Was ist mit dem qualitativen Aspekt? Manchmal sind es gerade Bücher mit „sperrigen“ Themen oder Fragen, die lange nachwirken, manchmal werden aus Zufallsfunden Lieblingsbücher. Ich will das nicht messen und schon gar nicht will ich messen, was ein Buch in meinem Kopf oder in meinem Herzen bewirkt.

Fazit?
Lesen ist meine Leidenschaft, mein liebster Zeitvertreib, mein Hobby und es ist ein Genuß aus einer Vielzahl vermeintlich „wichtiger“ und „unwichtiger“, „nützlicher“ oder gar „unnützer“ Werke aller Art auswählen zu können. Ich entschwinde dann mal mit einem guten Buch …….

Twittergespräch zu VDS und Überwachung

Am Freitag wurde das neue Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung beschlossen. Ein Thema, das mich durchaus aufregt und dementsprechend habe ich auf Twitter auch ein paar deutlich ablehende Tweets geschrieben.Einer dieser Tweets löste ein spannendes Gespräch aus.

Thomas Michl retweetete meinen Tweet und Detlef Kreuz antwortete mir.

Seine Antwort hatte mich für interessanterweise zwei Ebenen – eine inhaltliche Ebene, in der es um das Thema Überwachung und VDS ging und eine kommunkative Ebene, eine „Einladung“ zum Twittergespräch. Diese Einladung habe ich (wie so oft) gerne angenommen.

Ich war mir am Anfang gar nicht sicher, ob mein Gesprächspartner die Vorratsdatenspeicherung auch ablehnt oder nicht. Schnell kamen wir nämlich vom Thema Smartphone auf die Frage, ob wir Unternehmen nicht dieselben Daten zur feien Verfügung stellen. Aus meiner Sicht ein von Befürwortern der Vorratsdatenspeicherung oft genutztes Argument. Aber gerade weil da jemand Fragen stellte, die unbequem waren und weil mir jemand widersprach und meine Argumente hinterfragte, war das Gespräch gut. Ja, natürlich ist es nett, wenn jemand zustimmt. Aber wir entwickeln uns nur dann weiter, wenn wir uns selbst und unsere Überzeugungen auch immer wieder hinterfragen. Insofern war die Frage, ob meine Gesprächspartner meine Meinung zum Thema VDS teilen, gar nicht wichtig. Viel wichtiger war, daß sie sich auf ein offenes Gespräch mit mir eingelassen haben und mir dadurch auch wieder Fragen „aufgegeben“ haben, über die ich nun nachdenken muß (zum Beispiel: ist Datensammlung durch Unternehmen auch Überwachung? Wenn nein, warum nicht?).

Ein Großteil dieses Twittergesprächs läßt sich hier nachlesen.

So weit, so gut. Doch am Sonntag nahm unser Twittergespräch noch eine andere kommunikative Wendung. Ein weiterer Twitterer griff das Thema auf – Aufhänger war (soweit ich das nachvollziehen kann) der Tweet, das wir Unternehmen unsere Daten zur freien Verfügung stellen. Inhaltliche Ebene: wieder das Thema Überwachung und VDS, die kommunikative Ebene war für mich unklarer: der Beitrag „und das rechtfertigt einen Überwachungsstaat?“ ist zunächst erst einmal eine Frage. Ich hätte die „Frage“ vermutlich einfach mit einem „nein“ beantwortet. Ein Gesprächspartner von Freitag hat jedoch eher die „rhetorische Frage“ und damit die in der Frage beinhaltete „Unterstellung“ gespürt. Die „Frage“ war keine Einladung zum offenen Gespräch, sondern eher die Aufforderung sich zu erklären (zu rechtfertigen) und abzugrenzen.

Auch aus dieser Wendung (an der ich inhaltlich nicht beteiligt war) habe ich für mich eine wichtige Frage mitgenommen: können wir eigentlich noch offen mit Menschen diskutieren, die anscheinend oder tatsächlich anderer Meinung sind? Eine sehr wichtige Frage, die ich demnächst unbedingt aufgreifen muß.

Und wen es interessiert: meine Gesprächspartner am Freitag waren übrigen gegen VDS.