Meine Twittertimeline ist – glücklicherweise – bunt gemischt. Es gibt Menschen, die sich im Moment über politische Themen austauschen (und durchaus auch aufregen); es gibt Menschen, die sich in vielfältiger Weise in Projekten engagieren und darüber berichten; es gibt Menschen, die ihre Social-Media- oder auch Gründungserfahrungen teilen; es gibt Menschen, die über kulturelle Themen twittern und es gibt Menschen (wie zum Beispiel mich), die sich gerne in Diskussionen zu Büchern und Literatur tummeln. Aus einer solchen Diskussion – einem ziemlich langen Thread – entstand eine Diskussion über „Bildungsbürger“, ein Begriff der mich stört und den ich ablehne.
Der Ausgangspunkt ……
Ausgangspunkt war am 4. Juli dieser Thread: ich hatte einen Tweet retweetet und daraus ergab sich eine Diskussion über gute Autoren zwischen mir, dem @itbeobachter, dem @pjakobs und später noch @dknake. Im Verlauf des Threads landeten wir über eine „Auflistung“ guter Autoren, der Suche nach einer Autorin (Marianne von Willemer, die ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte), Fässern („willst Du dieses Faß auch noch aufmachen“) schließlich beim Lateinlernen und bei Ovid (genauer den Metamorphosen des Ovid). Es war eine nette kleine Diskussion unter Menschen, die anscheinend gerne lesen.
Aufgrund der Diskussion habe ich mir mehrere Bücher bestellt – eine Sammlung von lustigen Gedichten, zwei Kriminalromane, die mir per DM vom @itbeobachter empfohlen wurden und die Metamorphosen des Ovid in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß (ich wollte es nicht online lesen). Aus meinem Tweet über die Bestellung ergab sich dann wieder ein längerer Thread über gute Literatur unbedingt zu lesende lateinische Werke (in deutscher Sprache), in dem @pjakobs plötzlich einen Satz äußerte, der mich massiv störte und verstörte, nämlich: „Gott was sind wir doch für Bildungsbürger“.
Ich eine Bildungsbürgerin?
Ich ließ den Satz in dem Thread einen Moment sacken und dachte sofort: nein, das bin ich nicht. Ich bin keine Bildungsbürgerin. Alles in mir stellte sich bei dem Gedanken quer. Nicht, daß ich nicht an Bildung interessiert bin – im Gegenteil. Ich finde die Idee, ein Leben lang zu lernen, großartig und ich glaube ich, daß ich das tatsächlich lebe. Ich lese viele Bücher – Sachbücher genauso wie Romane, Theaterstücke genauso wie Essays. Ich gehe gerne und im Moment auch relativ oft ins Theater, ich besuche Ausstellungen und ich informiere mich über viele Themen. Aber Bildungsbürgerin? Nein, etwas in mir sperrte sich ganz stark.
Ich habe es später in dem Thread für mich wie folgt formuliert: „Belesen ja, neugierig ja, halbwegs gebildet ja, vielfältig interessiert ja – das sind meine Ziele!“
Der eine oder die andere mag das durchaus als „Bildungsbürgertum“ verstehen, für mich ist das aber etwas anderes. Schon aufgrund meiner Herkunft paßt der Begriff „Bildungsbürgertum“ nicht. Meine Mutter war ungelernte Arbeiterin – sie hat mich immer unterstützt, wenn es um Bildung ging – und dementsprechend sind viele „klassische“ Bücher erst bei uns „eingezogen“, als ich diese haben wollte. In den Regalen im Wohnzimmer standen Werke von Konsalik, die mein Vater gerne las und ein paar Bücher aus dem Bertelsmann Club Sortiment. Außer den typischen Kinderbüchern (zum Beispiel Märchen von den Gebrüdern Grimm und Hans Christian Andersen) – die ich natürlich geschenkt bekam – zogen erst mit meinen ersten ausgeprägten Lesewünschen „Klassiker“ bei uns (beziehungsweise in meinem Bücherregal) ein.
Irgendwann in den späten siebziger Jahren wurde die Verfilmung des Buches „David Copperfield“ von Charles Dickens als weihnachtlicher Mehrteiler gezeigt. Wie habe ich diesen Film geliebt! Und wie habe ich mich gefreut, als ich dann zum nächsten Geburtstag von meinen Eltern das Buch geschenkt bekam. Ich habe es in den Jahrzehnten, seitdem ich es geschenkt bekam, x-fach gelesen und der Bucheinband zeigt (obwohl ich immer sehr pfleglich damit umgegangen bin) deutliche Gebrauchsspuren. So kam Charles Dickens als erster Klassiker in mein Leben. Goethe, Schiller und Shakespeare kamen erst später dazu, dazwischen schaffte es noch Theodor Storm mein Herz zu erobern und nahm mit einer mehrbändigen Ausgabe seinen Platz im Regal ein.
Heute ist im Regal kaum noch Platz (nein, das ist die Untertreibung – viele meiner Bücher sind im Moment ausgelagert und ich habe viele erst vor kurzem aus ihrem Karton-Zwischenlager befreit und in ein Regal gesteckt). Ja, heute würde ich durchaus sagen, daß ich belesen bin und man findet viele Klassiker unter diesen Werken. Aber damals – damals waren die Voraussetzungen anders und ich habe meine „Lesewelt“ nach und nach erst aufgebaut.
Kommt es nicht auf die Entwicklung an?
Meine Ablehnung des Begriffs „Bildungsbürger“ konterte @pjakobs mit dem Einwand, daß wir alle uns ja seit der Schulzeit entwickelt haben. Das ist sicherlich richtig und ich würde für mich durchaus in Anspruch nehmen, daß ich mich gerade in den letzten drei Jahrzehnten (ja, solange ist die Schulzeit schon her) sehr stark entwickelt habe – in meinen Interessen, in den Büchern, die ich lese aber auch ganz allgemein in meiner Persönlichkeit. Ich bin nicht mehr die Astrid, die 1988 das Abitur gemacht hat und dann nach Köln an die Uni gegangen ist. Aber manche Dinge ändern sich trotzdem nicht. Ich kann und will meine Herkunft weder ablegen noch verleugnen, zu manchen Dingen oder Themen fehlt mir manchmal auch der Zugang, weil es nicht zu meinem Alltag gehörte. Menschliche Entwicklung ist wichtig – sehr wichtig sogar – aber sie macht aus einem neugierigen und interessierten Menschen eben auch noch keinen Bildungsbürger – finde ich zumindest.
Warum mich der Begriff „Bildungsbürger“ stört
Für mich hat der Begriff „Bildungsbürger“ etwas Trennendes und Ausschließendes – es gibt die Menschen, die mit einem bildungsbürgerlichen Alltag in einem bildungsbürgerlichen Haushalt aufgewachsen sind. Das ist schön und ich möchte das auch gar nicht negativ bewerten. Aber es gibt auch „die anderen“ und zu diesen anderen gehöre ich. Es macht mich betroffen, daß mein Lernen und meine Entwicklung einfach nur ein „jetzt bist Du auch auf der Stufe der Bildungsbürger angekommen“ darstellen sollen. Ich werde in diesem Moment nicht um meiner selbst oder aufgrund meiner Lernanstrengungen und Lernerfolge „gewürdigt“, sondern nur, weil ich – endlich – einem vermeintlichen Bildungsideal entspreche (nein, ich entspreche diesem Ideal nicht – ganz und gar nicht). Es ist irgendwie die falsche Anerkennung für das falsche Ziel oder das falsche Bild von mir. Und ja, das stört mich – weil die Offenheit für unterschiedliche Lebenswege und unterschiedliche Interessen fehlt.
Und Ihr?
Wie seht Ihr das? Seht Ihr Euch als Bildungsbürger? Könnt Ihr mit dem Begriff etwas anfangen? Ich bin neugierig und würde mich freuen, Eure Ansicht zu diesem Thema hier oder bei Twitter zu lesen!
Liebe Astrid,
ich fand meinen Kommentar zu bissig und hab ihn deshalb in meinem eigenen Blog veröffentlicht 🙂
This way: https://blariog.net/2018/07/16/wie-halten-sie-es-mit-dem-bildungsbuergertum/
VG
Mario