Seit 2009 nutze ich Twitter. Gerade in den letzten zwei bis drei Jahren habe ich mir eine spannende Timeline aufgebaut, in der ich Inhalte finde, die mich interessieren, die mich „stören“ und die mich zum Nachdenken anregen. Im Laufe der Zeit habe ich über Twitter viele gute Gespräche geführt – gerade auch da, wo ich mich mit völlig anderen Ansichten und Lebenserfahrungen auseinander gesetzt habe. Auch wenn „meine“ Zusammenstellung sicher nicht perfekt ist, so habe ich im Laufe der Zeit doch ein gewisses Gefühl für wichtige Strömungen und ein gewisses Grundvertrauen in meine Timeline und die darin angesprochenen Themen entwickelt. Dieses gute Gefühl beruht zu einem großen Teil darauf, daß ich eben nicht „jedem“ folge und durchaus Zeit und Sorgfalt in die Zusammenstellung meiner Timeline stecke.
Und jetzt?
In den letzten Wochen mehren sich die Anzeichen, daß unangenehme Neuerungen ins Haus stehen. Unangenehm deshalb, weil die von Twitter angedachten „Neuerungen“ meine Auswahl und Autonomie in Frage stellen. Auf Twitter selbst findet man mittlerweile eine „erweiterte“ Beschreibung der „Timeline“. Irritierend ist dabei für mich vor allem der dritte Absatz:
Außerdem fügen wir möglicherweise auch einen Tweet, einen Account, dem Du folgen solltest oder sonstige beliebte bzw. relevante Inhalte zu Deiner Timeline hinzu. Das bedeutet, dass Dir manchmal Tweets von Accounts angezeigt werden, denen Du nicht folgst. Wir wählen jeden Tweet anhand vieler Faktoren einschließlich der Beliebtheit und der Interaktion von Personen in Deinem Netzwerk damit aus. Unser Ziel besteht darin, Deine Timeline auf der Startseite noch bedeutungsvoller und interessant zu gestalten.
Neben einer Zunahme von gesponsorten Tweets (die in der Timeline-Beschreibung auch ausdrücklich erwähnt werden) drohen also weitere „fremde“ Inhalte. So tauchen wohl mittlerweile fremde Tweets, die von Followern ein „fav“ erhalten haben, in manchen Timelines auf. Nach ersten Berichten sind viele Twitternutzer wenig begeistert. Auch im deutschsprachigen Raum gibt es zunehmend Berichte über die möglichen Neuerungen und die Reaktionen der Nutzer.
Fremde Inhalte – na und?
Bisher sind die in den Berichten erwähnten Änderungen in meiner Timeline noch nicht aufgetaucht – und darüber bin ich auch sehr froh. Trotzdem habe ich über dieses Thema in den letzten zwei Wochen intensiv nachgedacht. Ganz klar: über die möglichen Neuerungen freue ich mich nicht. Für gesponsorte Tweets habe ich – unter dem Aspekt der Finanzierung – Verständnis. Ich würde mich zwar über andere Modelle (zum Beispiel eine bezahlte „werbefreie“ Timeline) freuen, aber in einem gewissen Sinn ist Werbung die „Kröte“, die ich für die kostenfreie Nutzung von Twitter halt „schlucken“ muß. Aber damit hört mein Verständnis auch schon auf. Ich möchte weder Tweets, die von Menschen aus meiner Timeline gefavt wurden noch „beliebte“ oder „relevante“ Inhalte von Personen erhalten, denen ich bisher nicht folge. Warum?
Twitterer nutzen die Fav-Funktion sehr unterschiedlich. Manche drücken darüber ihr Einverständnis aus, ihr Schmunzeln über lustige Sprüche oder Begegebenheiten, andere wiederum nutzen Favs, um Links oder Tweets für später zu „merken“ oder direkt (zum Beispiel in Evernote) zu speichern. Ich selbst unterscheide für mich sehr deutlich, ob beziehungsweise wie ich auf einen Tweet reagiere. Ein „Fav“ ist für mich eher eine Interaktion im Dialog – ein kleines Dankeschön, ein virtuelles Lächeln oder Winken. Diese Dialoginteraktion ist natürlich auch für andere sichtbar – für Tweetdecknutzer zum Beispiel in der Spalte „Activity“. Es ist aber ein Unterschied, ob etwas für andere „sichtbar“ ist oder ob sie es „ungewollt“ in ihrer Timeline finden. Wenn ich etwas in die Timeline meiner Follower bringen möchte, dann entscheide ich mich bewußt für einen Retweet. Diese – bewußte – Entscheidung übergeht Twitter, wenn plötzlich gefavte Tweets in der Timeline auftauchen. Und ganz ehrlich: gerade eben habe ich mir auch die Frage gestellt, ob ich unter dieser Maßgabe die Fav-Funktion überhaupt noch nutzen möchte ……
Noch ärgerlicher finde ich den Gedanken, daß völlig fremde Tweets in meiner Timeline auftauchen, weil es sich um „beliebte“ oder „relevante“ Themen handelt. Gerade die Erklärung von Twitter, daß die Auswahl von vielen Faktoren – unter anderen Beliebtheit und Interaktion von Personen in meinem Netzwerk – abhängt, bereitet mir Bauchschmerzen. Meine Timeline ist sehr bunt und enthält damit auch immer wieder Themen, die ich „freundlich ignoriere“, weil sie mich persönlich nicht berühren, aber mich bei den Menschen in meiner Timeline auch nicht stören. Spontan fallen mir Themen wie Fußball, Fernsehsendungen à la „Bachelorette“ und Twitter-Chats wie zum Beispiel der #edchatde ein. Zu den entsprechenden Zeiten sind diese Themen in meiner Timeline sehr beliebt und es finden dazu viele Interaktionen statt. Trotzdem sind diese Themen für mich nicht relevant. Ein „mehr“ an Tweets zu diesen Themen ist daher eher abschreckend als „bedeutungsvoll und interessant“.
Angst vor fremden Inhalten?
Schon im August hat Daniel Fiene in einem Blogpost gefragt, ob wir Angst vor fremdem Wissen haben. Grundsätzlich eine gute Frage – aber gleichzeitig auch eine Frage, die den Kern des Problems für mich nicht trifft. Es ist kein „Angebot“ von Twitter, mir zusätzlich – wenn ich denn will – interessante Inhalte vorzuschlagen. Damit hätte ich kein Problem und vermutlich würde ich (aus Neugier) eine solche zusätzliche Spalte sogar bei Tweetdeck einrichten. Es ist nicht die Angst vor den Inhalten oder dem damit verbundenen Wissen – denn auch Retweets dieser Inhalte könnten ja jederzeit in meine Timeline kommen – sondern das Nichtachten meiner Auswahl. Es mag durchaus sein, daß mir gelegentlich spannende Themen und Inhalte entgehen und daß es Menschen gibt, denen ich unbedingt auch noch folgen sollte. Meine bisherige Erfahrung mit Twitter ist, daß mich wichtige Themen „irgendwie“ erreichen. Für mich reicht das – vor allem, da ich Twitter mehr zum Gespräch als zur reinen Information nutze. Insofern stört es mich, wenn Twitter (oder ein anderer Dienst) mir nicht nur Vorschläge macht, sondern tatsächlich über die Werbung hinaus in „meine“ Timeline eingreift. Letztendlich hat @PickiHH recht, wenn sie schreibt „Es ist halt eben nicht DEINE Timeline, sondern Twitters Timeline“.
Gerade eben habe ich noch ein „Beispiel“ entdeckt, wie gravierend die Auswirkungen sein können. Das konkrete Beispiel macht mich gerade nachdenklich und ratlos. Jeder „unerwünschte“ Tweet ist eigentlich schon ein Tweet zuviel – aber gar 40%?
Unerwünschte Inhalte sind ….
…. halt unerwünscht. Es ist der Gedanke der „Zwangsbeglückung“, die Idee des „wir wissen besser als Du selbst, was Du lesen möchtest“, der mich stört. Genauso genervt bin ich, wenn Anrufer mir Wein und Teppiche anbieten. Die üblichen „cold calls“ eben. Ähnlich genervt wäre ich, wenn ich mir im Fernsehen eine Dokumentation anschauen möchte und mir plötzlich stattdessen – mit der Begründung „Dein Netzwerk schaut das“ – eine völlig andere Sendung eingeblendet werden würde. Der unerwünschte Inhalt ist ein Störfaktor und gerade bei Twitter empfinde ich den Störfaktor stärker, weil es „bisher“ anders war (in meiner Timeline noch anders ist).
Die Folge?
Noch habe ich die Hoffnung, daß sich Twitter eines Besseren besinnt (und die Hoffnung stirbt bekanntlich ja zuletzt). Insofern denke ich weder an Weggang noch an Streik. Natürlich werde ich die Entwicklung und meine Timeline jetzt kritischer beobachten. Enttäuscht bin ich trotzdem, denn ich habe den Eindruck, daß Twitter selbst den eigenen Vorteil gegenüber anderen Plattformen überhaupt nicht verstanden hat. Schade! Aber vielleicht ist Twitter ja lernfähig, denn unerwünschte und damit „kalte“ Tweets sind eben nicht für alle Nutzer bedeutungsvoll und interessant.