Müssen wir alles aufzeichnen?

Mitte August habe ich mit Sebastian Greiner, Sascha Hüsing und Jan Theofel eine spannende Diskussion über das Thema Livestreaming bei Barcamps geführt. Meine Sicht der Dinge habe ich in einem Blogbeitrag ausgeführt, am gleichen Tag hat auch Sebastian Greiner einen ausführlichen Blogbeitrag geschrieben. Auf diesen Beitrag habe ich bisher noch nicht geantwortet – das möchte ich jetzt nachholen.

Vorweg: Aufzeichnungen in Zeiten der Überwachung?
Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich vor zwei oder drei Jahren anders mit dem Thema Livestreaming bei Barcamps umgegangen wäre. Die letzten Jahre haben zu dem Stichwort „Überwachung“ einige negative Facetten gezeigt – nicht zuletzt den Neubeginn der Vorratsdatenspeicherung vor ein paar Tagen. Gerade die Art und Weise, wie die Bundesregierung mit den Grundrechten der Bürger umgeht, bereitet mir Bauchschmerzen. Das habe ich an anderer Stelle auch schon ausführlicher thematisiert. Macht es Sinn, in solchen Zeiten zusätzlich durch Aufzeichnungen „Material“ zu sammeln?

Trotzdem war das Thema Überwachung nicht der Grund meiner ablehnenden Haltung. Vielmehr hatte ich den Eindruck, daß wir von unterschiedlichen „Grundannahmen“ über Barcamps ausgingen und mit diesen „Grundannahmen“ möchte ich mich im Folgenden auseinandersetzen.

Barcamp als Bühne?
William Shakespeare hat die ganze Welt als Bühne und alle Männer und Frauen als Schauspieler bezeichnet. Nach diesem Verständnis ist natürlich auch das Barcamp eine Bühne – aber alle Barcampteilnehmer sind dann Mitspieler. Dieser Gedanke paßt gut zu meinem Barcampverständnis. Auch als Sessiongeberin betrete ich keine Bühne, sondern bearbeite mit den Mitspielern in meiner Session gemeinsam ein Thema. „Bühne“ beinhaltet für mich ganz stark eine Unterscheidung in aktiv und passiv, oben (Bühne) und unten (Publikum), wissend und unwissend. Ja, natürlich präsentiere ich mich oft als Expertin, wenn ich eine Session anbiete. Mir ist es aber wichtig, daß wir auf Augenhöhe miteinander sprechen und ich (auch in meiner Session) von den Erfahrungen und Fragen der Sessionteilnehmer lerne – deswegen ist der „Bühnengedanke“ für mich nicht wirklich zutreffend.

Fertige Vorträge?
Ja, ich weiß – auf vielen Barcamps werden fertige Vorträge als Sessions angeboten – oft auch immer wieder dieselben Vorträge. Das ist ehrlich gesagt ein Punkt, den ich ziemlich enttäuschend finde und auch gelegentlich schon angesprochen habe.. Wir nehmen das Potential eines Barcamps nicht wahr, wenn wir Gespräche in die Pausen verbannen und fertige Vorträge präsentieren. Ich habe Barcamps gerade in den letzten zwei Jahren gerne genutzt, um immer wieder neue Themen und neue Formate auszuprobieren. Eine Aufzeichnung finde ich dabei hinderlich. Ich möchte gerade die Möglichkeit des Scheiterns haben – muß das verewigt werden?

Meine Befürchtung ist auch, daß zunehmende Aufzeichnung auch zu mehr fertig vorbereiteten Vorträgen bei Barcamps führen wird. Für manche mag das eine gute Entwicklung sein, ich sehe das anders – gerade das Spontane, Unfertige und Unperfekte macht für mich einen großen Teil des Charmes von Barcamps aus.

Barcamps sind Gespräche
Ganz richtig hat Sebastian in seinem Beitrag auch festgestellt, daß Abwesende das „Socialising“ vor Ort nicht mitbekommen. Aber: die Gespräche bei guten Barcamps finden eben nicht nur in den Pausen statt, gute Barcamps sind eigentlich ein ununterbrochenes Gespräch. Kai von Lewinski hat auf der Telemedicus-Sommerkonferenz über das Konzept einer gestuften Öffentlichkeit nachgedacht.

Diesen Aspekt finde ich – gerade im Hinblick auf Barcamp-Gespräche – sehr wichtig. Die Unterscheidung privat – öffentlich (also schwarz oder weiß) paßt nicht wirklich auf die tatsächliche Situation. Die „Öffentlichkeit“ des Barcamps bedeutet zunächst, daß jeder Mensch teilnehmen kann – es gibt (außer der zahlenmäßigen Beschränkung über die Anzahl der Tickets) keine Beschränkungen für die Teilnahme. Das ist auch gut so – trotzdem ist das Gefühl der Öffentlichkeit bei einem Barcamp und gerade in einer Session „relativ“. Es sind eben „nur“ zehn, zwanzig oder vielleicht auch vierzig Menschen in einem Raum. Bisher hatte ich in solchen Räumen auch das Gefühl, gut einschätzen zu können, ob beziehungsweise wie ich mich an einem Gespräch beteilige. Manchmal gehören dazu auch provozierende Fragen, Bezugnahmen auf andere Sessions oder Pausengespräche, Berichte über persönliche Erfahrungen. Streaming und Aufzeichnung durchbrechen diese relative Öffentlichkeit des begrenzten Raums und stellen eine absolute Öffentlichkeit her. Das mag für manche Menschen ein Vorteil sein, ich empfinde es als Nachteil.

Von der Barcamp-Session zur TV-Talk-Show?
Denn mit Streaming und Aufzeichnung wird aus der Barcamp-Session plötzlich eine „TV-Talk-Show“ und meine Rolle ändert sich. Ich bin nicht mehr die bloße Barcamp-Teilnehmerin, die Weiterbildung, Austausch und gute Gespräche sucht, sondern öffentliche Darstellerin. Damit muß ich mir plötzlich auch die Frage stellen, ob meine Rolle beim Barcamp zu einer derart öffentlichen Rolle paßt. Das hat viel mit den jeweiligen Rollen und den Erwartungen an die Rollenbilder zu tun. Es war für mich ein Vorteil des Barcamps, daß ich die oft eher formale Rolle der „Anwältin“ (kritische Analyse, klassische Kleidung) auf solchen Veranstaltungen für mich hinterfragen konnte. Gerade die Möglichkeit, mich auch bei (aus der Perspektive der Anwaltsrolle) fernliegenden Themen aktiv einzubringen, war ein unglaublicher Vorteil und eine Bereicherung. Livestreaming und Aufzeichnung empfinde ich persönlich daher als Beschränkung. Eine persönliche Befindlichkeit oder sogar Empfindlichkeit? Ja, definitiv!

Gestaltungsmöglichkeiten?
„Du kannst Barcamps doch mitgestalten“ wurde mir über Twitter vorgeschlagen. Ja, schon richtig. Aber das macht das Problem für mich nicht kleiner, sondern eher größer. Natürlich kann ich das Thema „Öffentlichkeit“ beziehungsweise „Livestreaming und Aufzeichnung“ ansprechen. Damit habe ich dann aber gleich mehrere Probleme: ich torpediere die Session auf der Metaebene (wer will schon über das Thema diskutieren, wenn eigentlich die Session zu einem anderen Thema laufen sollte) und ich muß mich mit der schwierigen Frage auseinandersetzen, wer denn überhaupt entscheiden soll? Der Sessiongeber, die Teilnehmer? Reicht das Veto eines Teilnehmers oder sprechen wir über Mehrheitsentscheidungen? Theoretisch sind das spannende Fragen, praktisch finde ich eine solche Vorgehensweise unfair. Sie ist unfair, weil sie weder meinen Interessen noch den Interessen der anderen gerecht wird. Es fehlt die Balance und es fehlt die Möglichkeit sich „wissend“ zu entscheiden.

Fazit
Auf Twitter hatte ich es schon geschrieben – für mich haben Barcamps ihre Attraktivität verloren. Das ist schade – vor allem für mich, aber der (persönliche) Preis, den ich zahlen müßte, ist mir „so“ zu hoch. Insofern kehre ich jetzt zu klassischen Konferenz- und Vortragsveranstaltungen zurück. Auch da wird mittlerweile oft aufgezeichnet, aber da bewege ich mich in der beruflichen Rolle, außerdem bin ich dort nicht Gesprächspartnerin, sondern in der Regel „nur“ Zuhörende. Und vielleicht entwickelt sich ja irgendwann ein Format, das auch für mich wieder paßt!

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