Internet bzw. „das Netz“ war für mich immer das, was man daraus bzw. damit macht. Es war in meinem Empfinden nicht „gut“ oder „böse“ – vielmehr bot (und bietet es) viele Chancen – neue Wissensbereiche zu entdecken, neue Menschen kennenzulernen, neue Initiativen aufzubauen. Für mich war (und ist) das Glas eigentlich meistens halb voll. Die letzte Woche fand ich allerdings durchaus irritierend und zwar in vielerlei Hinsicht.
Punkt 1 meiner Irritation: die Keynote (und auch das anschließende Interview) mit Assange auf dem Convention Camp #cch12 in Hannover. Zugegeben: ein Wahnsinnserfolg für das Orgateam, einen solchen Keynote-Speaker überhaupt zu bekommen. Aber die Keynote (und auch das von Richard Gutjahr geführte Interview) haben mich wenig berührt, ich war eher enttäuscht und habe mich auch gefragt, ob Assange einfach „alt und krank“ ist. Ja, mir ist schon klar, daß seine persönlichen Lebensumstände gelinde gesagt schwierig sind. Aber irgendwie hatte ich eine andere Vorstellung, ein anderes Bild von dem Menschen, der „Wikileaks“ mitbegründet hat. Ich war enttäuscht. Nicht, weil Assange ein negatives Bild abgeliefert hat oder weil er weitestgehend aus seinem (bald erscheinenden) Buch vorgelesen hat. Nein, das war es nicht. Nein, es klang irgendwie so banal einfach nach „das Netz ist böse“. Facebook als moderne Form der früheren Stasi paßte da gut ins rhetorische Bild. Und wie kommen wir da wieder weg? Nur mit Kryptographie …..
Richard Gutjahr hat das Interview aus seiner Sicht sehr gut in seinem Blog beschrieben – absolut lesenswert!
Punkt 2 meiner Irritation: Assange könnte sich irgendwie mit Jaron Lanier zusammentun. Warum? Jaron Lanier, dessen Buch „Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht“ ich gerade lese, spricht vom „kybernetischen Totalitarismus“. Lanier zeichnet ein sehr düsteres Bild unseres Lebens und unserer Zukunft – er fordert zwar humane Alternativen, sieht aber in der aktuellen „Online-Kultur“ vor allem antihumane Denkweisen, verlorene Kreativität und Selbstverleugnung (grob zusammengefaßt). Ein bedrückendes Buch, daß aber durchaus Themen anspricht, die ich für mich für wichtig halte – aber so bedrückend geschrieben, daß ich eine „positive Wendung“ schon fast für unwahrscheinlich halte. Das Buch läßt mich vor allem mit der Frage nach meinen „Werten“ zurück:
Was ist gut, was ist nicht gut? Ist Transparenz gut? Ist „open culture“ gut? Ist Creative Commons gut? Sind Netzwerke im Sinne von Facebook, Twitter und Google+ per se böse? Oder gibt es auch „Zwischenlösungen“?
Punkt 3 der Irritation ergab sich aus einem Gespräch beim Barcamp Wiesbaden #bcrm12. Lanier schildert auf Seite 67 (deutsche Fassung) den Gedanken, daß alle Bücher der Welt zu einem einzigen Buch zusammenwachsen. Ein für mich schrecklicher Gedanke – weil dann (so mein Empfinden) die Bücher und die Autoren „verloren“ gehen. Ich hielt dies für eine „unvorstellbare“ Utopie (oder: um es mit Assange zu sagen: für eine Dystopie). Aber – unglaublicherweise – schwärmte mir beim #bcrm12 tatsächlich jemand von dieser Idee vor ……..
Punkt 4 meiner Irritation beruhte auf den Diskussionen rund um das Leistungsschutzrecht. Lanier warnt in seinem Buch auf Seite 37/38 (deutsche Fassung) davor, daß die digitale Politik der Offenheit die Tageszeitungen vernichten wird. Trotzdem berichten die Zeitungen intensiv darüber – Lanier bezeichnet dies als „eine Art journalistisches Stockholm-Syndrom“ (ein toller Begriff wie ich finde). Man mag diese Ansicht teilen oder nicht, aber im Rahmen der Diskussionen in der letzten Woche passierte für mich etwas völlig Unerwartetes: Natürlich weiß ich schon länger, daß die Verlage das Leistungsschutzrecht herbeisehen und intensiv dafür kämpfen. Ich denke nicht, daß es der richtige Weg ist (das möchte ich hier allerdings nicht vertiefen) – aber bisher waren die Fronten eigentlich klar: der „gute Qualitätsjournalismus“ gegen den „bösen Internetriesen“ (der zudem noch aus dem Ausland kommt). Der gute Qualitätsjournalismus vergaß nur plötzlich, daß zur Qualität auch die objektive Berichterstattung gehört. Selten habe ich so wenig Artikel gelesen, die auch nur den Hauch von „Objektivität“ hatten. Sind die „Guten“ dann noch gut? Kann der „Böse“ noch böse sein, wenn die „Guten“ nicht mehr gut sind?
Auch hier: kurz aber lesenswert – der Blogbeitrag von Richard Gutjahr.
Ja, hier sitze ich nun und schreibe am späten Abend etwas über meine Irritationen der letzten Woche. Ich bin dankbar für diese Irritationen, denn die Themen, um die es geht, sind wichtig – für mich persönlich aber auch für „die Gesellschaft“. Ich bin gespannt, was sich aus diesen Themen entwickelt und freue mich natürlich auch über kritisches Feedback!