Die letzten zwölf Monate waren in vieler Hinsicht voller persönlicher Herausforderungen für mich. An manchen Herausforderungen bin ich gewachsen, manche Herausforderungen haben mich traurig, verletzt und ratlos zurückgelassen. Ich möchte in diesem Beitrag für die Menschen, die sich über mein Schweigen wundern, zusammenfassen, was sich alles „ereignet“ hat und wie ich mich in den letzten zwölf Monaten gefühlt habe. Vielleicht könnt Ihr meinen Rückzug und meine Entscheidungen dann ein bißchen besser verstehen. Und weil das alles ganz subjektiv ist und nur meine Sicht der Dinge und meine Gefühle beinhaltet, beginne ich auch jeden Abschnitt mit „ich“. Zu einigen Themen werde ich im Laufe der Zeit aber noch weitere Blogbeiträge schreiben beziehungsweise veröffentlichen.
Die letzten 12 Monate …..
Ich habe meine Mutter bis zu ihrem Tod intensiv begleitet. Gerade die letzten Wochen ab Anfang November letzten Jahres waren schwierig aber auch sehr bereichernd. Es war schön, daß ich meiner Mutter noch so viel Zeit und meine Unterstützung schenken konnte. Das hat uns einen wunderbaren Abschied erlaubt. Mich hat der Satz, den sie mir kurz vor der Fahrt ins Hospiz gesagt hat „Es war schön mit Dir“ seitdem begleitet.
Ich habe meine Mutter auf der Fahrt ins Hospiz begleitet. Dabei konnte ich sogar ihren Wunsch erfüllen, auf dieser Fahrt nicht zu weinen. Ihr „weine nicht“ höre ich immer noch. Ich bin froh, daß ich sie auf dieser Fahrt lächelnd begleiten konnte – das war die letzte „Reise“ ihres Lebens.
Ich habe mich von meiner toten Mutter verabschiedet. Ihre Hände waren noch warm, als ich zum Abschied ins Zimmer kam. Ich habe sie gestreichelt, mich verabschiedet und noch ein paar Erinnerungsfotos für mich gemacht.
Ich habe meine Mutter begraben. Es war ein wunderbarer Abschied, für den ich heute noch dankbar bin. Es war auch wunderbar, daß Menschen mich an dem Tag begleitet haben, die meine Mutter nicht oder nur flüchtig kannten.
Ich mußte feststellen, daß manche Menschen die Entscheidungen meiner Mutter zu ihrer medizinischen Behandlung zu Lebzeiten und zu ihrem Begräbnis nicht respektieren können und mir gegenüber immer wieder – auch jetzt noch – in Frage stellen. Diese Gespräche kosten unglaublich viel Kraft.
Ich habe mich in die Arbeit gestürzt, um die Zeit, in der ich wegen der Begleitung meiner Mutter nur wenig verdienen konnte, langfristig wieder „auszugleichen“.
Ich habe festgestellt, daß der Tod der „Hauptperson“, die familiären Konstellationen stark verändert. Auf dem Papier habe ich eine große Familie, in der Realität ist das völlig anders. Es fühlt sich komisch an, praktisch keinen Kontakt mehr zu anderen Familienmitgliedern zu haben. Und ja, ich weiß, daß das vor allem an mir liegt.
Ich habe viele Orte besucht, an denen ich auch schon mit meiner Mutter war. Es waren selten bewußte Besuche, oft war es eher Zufall. Ich habe dort eine wunderbare Ambivalenz meiner Gefühle erlebt. Einerseits war ich im Moment der Erinnerung kurz traurig und dachte „schade, daß meine Mutter nicht dabei sein kann“ und im gleichen Moment konnte ich denken „schön, daß ich mit meiner Mutter hier war“. Es war wunderbar, dies an ganz vielen – oft auch unscheinbaren Orten – immer wieder zu erleben.
Ich habe festgestellt, daß meine Art mit Tod und Sterben umzugehen und darüber auch zu sprechen, für viele Menschen ein Problem darstellt. Es gab nach dem Tod meiner Mutter einige gute Gespräche, es gab aber auch so manches irritierende und abgebrochene Gespräch. Manche haben auch immer noch nicht mitbekommen, daß meine Mutter letztes Jahr gestorben ist. Auf die Frage „wie geht es Ihrer Mutter“ reagiere ich meist lächelnd mit einem „letztes Jahr Anfang Dezember gestorben“. Das ist für die Fragenden oft sehr schwierig, aber der Tod meiner Mutter ist für mich nichts wirklich Trauriges mehr.
Ich habe viele Ausstellungen besucht, die mich persönlich interessieren. Oft habe ich dafür Tagesausflüge oder kürzere Reisen unternommen.
Ich hatte wieder mehr Zeit zum Kochen und habe viele neue Rezepte ausprobiert – nicht alle Versuche waren gut, aber einige Rezepte haben mich wirklich überzeugt.
Ich habe mich verliebt und wurde – wie immer in meinem Leben – abgewiesen.
Ich habe Menschen in mein Leben gelassen und auch wieder verloren. Ein Mensch hat mich mehrfach und sehr tief an meiner Seele und in meinem Herzen verletzt. Aus dem Gefühl einer wunderbaren Seelenverwandtschaft, die ich so noch nie erlebt hatte, wurde eine offene eiternde Wunde, die sich langsam in eine häßliche Narbengeschwulst verwandelt.
Ich habe in der dunklen Zeit der Abweisung und in den durchwachten tränenreichen Nächten Ende Juni und Anfang Juli sehr viel Unterstützung über Twitter bekommen. Dafür bin ich nach wie vor sehr dankbar, auch wenn ich auf den Anlaß gerne verzichtet hätte.
Ich habe (unfreiwillig) stark abgenommen, in den letzten Monaten bin ich zudem stark gealtert – ich merke das, wenn ich in den Spiegel schaue.
Ich habe mich mit wunderbaren Reisen getröstet. Stralsund mit einem Ausflug nach Binz, Trier mit dem Twittertreffen und Wittenberg mit der Erlebnisnacht waren wahre Highlights. Unvergessen ist mir die nächtliche Kirchenführung in Wittenberg mit dem Spruch „im tiefsten Dunkel der Nacht beginnt der neue Tag“.
Ich habe um meine berufliche Existenz gekämpft. Es war beruflich ein schwieriges Jahr. Die Herausforderungen der DSGVO, die Vielzahl der Unterrichtstage, die oft zeitlich nah beeinander lagen, die nachvollziehbare Ungeduld mancher Mandanten, weil ich innerhalb eines Jahres mehrfach „ausgefallen“ bin, die schon durch die Begleitung meiner Mutter erschöpften finanziellen Ressourcen – es gab wenig Momente, in denen ich einfach durchatmen und mich über Erfolge freuen konnte.
Ich habe – zusammen mit einem anderen Twitterer – eine Blogparade zum Thema „Freiheit“ begonnen, die ich aber nicht zuende führen konnte. Ich habe es nicht einmal geschafft, einen eigenen Beitrag zu diesem für mich wichtigen Thema zu schreiben.
Ich habe mich (zum ersten Mal in meinem Leben) auf Twitter unangenehm beobachtet gefühlt und mir die Frage gestellt, ob Twitter eine verbale Flaniermeile oder ein virtuelles Panoptikum ist. Oder beides?
Ich habe mich komplett zurückgezogen und eine ausführliche Twitterauszeit genommen, um nachzudenken und dabei festgestellt, daß meine Stimme im Konzert der Twitter-Stimmen nicht fehlt. Nur wenige aus meiner Timeline haben überhaupt gemerkt, daß ich nicht mehr da bin. Und je länger ich „weg“ bin, desto mehr wird mir bewußt, wie unwichtig meine Tweets sind – für mich selbst, aber auch für meine Timeline. Es war und ist unwichtig, ob ich etwas aus meinem Leben erzähle oder nicht, für die meisten Menschen ist es sogar unwichtig, ob es mich überhaupt gibt. Es ist irritierend und gleichzeitig auf eine gewisse Weise heilsam, sich so unwichtig zu fühlen. Nach allem, was ich in diesem Jahr erlebt habe, ist Twitter für mich kein fröhlicher und leichter Ort mehr. Im Moment kann ich mir – außer für die Verlinkung von Blogbeiträgen – jedenfalls nicht vorstellen, Twitter wieder aktiv zu nutzen.
Ich war immer eine graue Maus und habe jetzt erkannt, daß ich das auch immer noch bin. Dementsprechend habe ich mir vor ein Wochen auch nur noch graue Pullover gekauft. Meine Lieblingsfarbe „rosa“ war eine schöne Illusion, doch die Farbe der Pullover hat leider keinen positiven Einfluß auf die Pulloverträgerin.
Ich habe mit zwei Sprachkursen begonnen, damit ich einen guten Grund habe, aus dem Haus zu gehen und gleichzeitig das Gefühl habe, etwas Sinnvolles zu tun.
Ich habe mich von einem Projekt, das mir sehr am Herzen lag, verabschieden müssen, weil ich die an mich gestellten Anforderungen einfach nicht erfüllen kann. Vermutlich wird dieser Twitterkontakt auch einschlafen.
Ich habe sehr viele Theateraufführungen besucht. Manche waren gut, manche sehr gut, manche – wie die der Bremer Shakespeare Company am letzten Samstag – grandios. In vielen Stücken habe ich Stellen gefunden, die irgendwie „an mich gerichtet waren“ und es war immer schön, für ein paar Stunden in eine andere Welt einzutauchen.
Ich habe meine Freude am Small Talk, an Gesprächen mit (noch) Unbekannten und meine Neugier auf Menschen verloren und noch nicht wiedergefunden. Mehr als nur oberflächliche Freundlichkeit gelingt mir selten. Das ist auch ein Grund, warum es mir leicht fällt, auf Twittergespäche zu „verzichten“. Ob ich die Freude an solchen Gesprächen jemals wiederfinden werde?
Ich arbeite daran, die fahrlässig im Sommer geweckte Hoffnung, daß es in meinem Leben „Liebe und Beziehung“ geben könnte, tief und endgültig zu begraben. Es ist eine harte, traurige und mühsame Arbeit. Aber es macht keinen Sinn, auf etwas zu hoffen, daß nie eintreten wird. Ich habe immer nur Abweisungen erlebt, es gibt keine Erinnerung an irgendeine gute Zeit und jeder weitere Versuch, würde wohl unweigerlich zur nächsten Abweisung und Verletzung führen.
Ich habe in den letzten 12 Monaten viele Tränen vergossen und gelernt, daß es unterschiedliche Arten von Tränen gibt. Es gibt die guten Tränen, die befreien und Kraft geben. Es waren diese Tränen, die ich im November und Dezember geweint habe. Wie oft bin ich kurz aus einem Raum herausgegangen, weil die Tränen kamen; wie oft habe ich mich abgewendet und schwer geschluckt, um nicht im Beisein meiner Mutter in Tränen auszubrechen. Aber es waren gute Tränen – sie haben mir unendlich viel Kraft gegeben.
Dann gibt es noch die Tränen, die schwächen und Kraft rauben. Es sind diese Tränen, die ich seit Ende Juni in großer Zahl vergossen habe. Aus jeder dieser Tränen (und es waren sehr viele!) ist ein Stein geworden und mit diesen Steinen baue ich gerade einen dicken und hohen Schutzwall um meine Seele und um mein Herz.
Ich schaue mit sehr gemischten Gefühlen auf die letzten zwölf Monate zurück. Vieles, was mir vor einem Jahr wichtig war, ist nicht mehr wichtig. Es hat sich viel geändert und ich hätte (bis auf den Tod meiner Mutter) nichts davon vermutet. Das macht es manchmal auch schwierig, fröhlich und hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen. Aber bis auf den einen Lebensbereich, den ich oben gesondert erwähnt habe, bin ich grundsätzlich optimistisch veranlagt und so hoffe ich, daß die nächsten 12 Monaten Stoff für schönere Berichte liefern werden. In der Zwischenzeit verarbeite ich die oben erwähnten Themen zumindest zum Teil in Blogbeiträgen, die ich auf Twitter verlinken werde.